Ich sitze, eine Toscanello rauchend zum Espresso, an einem Tischchen vor dem Café. Ich beobachte einen Bettler, der auf der gegenüberliegednen Straßenseite eine Bank belegt hat mit seinen Plastiktüten, seinem Rucksack; der Vorübergehenden den Hut entgegenhält, von Zeit zu Zeit ein Notizbuch zur Hand nimmt, eifrig darin zu schreiben. Ungeachtet des winterlichen Wetters trägt er kurze Hosen; Bergstiefel dazu, mehrere Schals, den Anorak über vermutlich mehreren Pullovern. Eine verwahrloste Erscheinung, die zuweilen lautstark unverständliche Worte hinausschreit in die Welt. Meine Gefühle schwanken zwischen Mitleid und Verachtung; Gefühle eines anständig gekleideten Bürgers. Gefühle, die eine große Distanz zwischen uns beiden voraussetzen. Dann unvermittelt der Gedanke, daß ich mich von diesem Bettelmann unwesentlich unterscheide. Daß auch in mir ein Betteln, ein Rufen, ein Aufschauen, eine Not. Wir sind Bettler. Das ist wahr – Worte, die Martin Luther vermutlich am Vorabend seines Todes niedergeschrieben. Zwei Bettler, die einander gegenüberübersitzen. Wir beide sind ein Augenblick in Gott. Wer tritt, wenn die Lilie ruft, im Tuch der Hirtenmäntel, segnend an das Grab, beugt sich übers Lager all der Siechen, bringt den bunten Stein, das hohe Wort, den Honigseim? Ich will Christus denken, will ihm danken, will ihm dienen. Wir sind Bettler. Das ist wahr.

Autor: fentzloff

Ulrich Fentzloff, 1953 in Ludwigsburg geboren und aufgewachsen. Kind poetisch verklärter Tage in einem Württemberg des Geistes. Studium der Evang. Theologie und der Philosophie an der Universität Tübingen. Vikar in Leonberg-Silberberg. Pfarrverweser in Unterlenningen, am Fuße der Schwäbischen Alb. Gemeindepfarrer in Kirchberg/ Jagst (Hohenlohe), an der Johanneskirche in Stuttgart, und schließlich, 25 Jahre lang, bis Sommer 2016, in Langenargen am Bodensee. Lebt als Dichter in Konstanz. Absichtlich deckt den Ausgang des Tages zu, Umnachtet das Zukünftige uns der Gott Und lacht, wenn sterblich eins zu sehr be- Sorgt, was geschehen wird. (Horaz, in der Übersetzung Friedrich Hölderlins)