Ich wohne an der Grenze zur Schweiz – gleichwohl vermag ich des Eindrucks mich nicht zu erwehren, ich lebte in geistiger Hinsicht auf einer Atlantikinsel vor der bretonischen Küste. Gott alleine weiß, weshalb ich ausgerechnet an einen solchen Ort gesandt, auf eine Insel verbannt bin. Ich beabsichtigte nie, Außenseiter zu sein. Nie, daß ich ein insulares Dasein angestrebt hätte. Ich habe nie die Entscheidung getroffen, ein metaphysisch, poetisch empfindender und denkender Einzelner zu werden. Es ist die kindlich anmutende Christusliebe, die mich hat einsam werden lassen im XX. und vollends im XXI. Jahrhundert. Warum bin ich in diese Zeit geworfen worden? In einem anderen Jahrhundert hätte ich, was das Denken anbelangt, auf keiner Insel mein Dasein fristen müssen, hätte ich im Landesinneren eine Wohnstatt gefunden. Wir sind jeweiligen Epochen, dem jeweiligem Zeitgeist ausgeliefert. Das Jahrhundert verfügt darüber, ob wir im Chor mitsingen dürfen oder den vereinsamten Melodien gehören der Melancholie. »Wir heiraten die Zeit. / Rhododendronblüten singen eher beiläufig / Ihr Lied im kalten Wind der Frühe. / Aus den Schatten solcher Trunkenheit, / Die taubenblau verweint, trägt der Mond / Als Trauzeuge die Ringe / An den Altar. // Wir heiraten die Zeit, / Derweil die Amsel, in sich selbst versunken, / Ihr kleines, scheues Rotweinlicht vergißt. / Im Gewand des Sommers kommt, mit Kähnen, / Darauf die Toten wohnen, der See / In unser Kinderkrankenhaus. Wir heiraten die Zeit.« (Die Turmuhr und der Bräutigam)

»Ich muß arbeiten wie ein Pianist.« (Tolstoi) Das Setzen von Buchstaben auf weißes Papier gemahnt an ein Antippen von Tasten. Man baut, am Flügel einsam sitzend, Klänge auf, zieht mit diesen durch Gärten, Gassen, kriegsverheerte Dörfer, verliert sich sehnsüchtig im Verklingen einer Melodie, eines Akkords. Der Klang – ein Ungreifbares, welches verehrt. Wir sind von uns selber wie auch von Gott abgrundtief entfernt. Klangfragmente jedoch zeigen uns Jesu Antlitz. Ein alter Dichter. Allabendlich sein Weg hinunterführt zum Hafen. Er, der früher hohe Staatsämter bekleidet, ist nunmehr verarmt. Der Hafen, ihm zur Heimat geworden. Die Spaziergänge des Dichters sind ein Klavier.

Der Besitzer des Hotels, Monsieur Piatti, fragte, warum keine großen Romane mehr geschrieben würden? Er führte aus: »Alles ist geistig klein geworden, weil wir den Künstler als stillen Handwerker und Denker der Kunst nicht mehr unter uns wissen – alle sind Spezialisten geworden; der Spezialist begreift keine Zusammenhänge, hat keinen Überblick über das Ganze einer Epoche; keine metaphysische Frage, welche sein Werk trüge. Was fehlt, ist der Blick des Türmers, der Blick des Wächters, wie in der griechischen Tragödie beschrieben. Sie wissen doch, daß der Spezialist erstickt im Mikrokosmos seines Geistes und für den Astrophysiker schrumpft die Weite des Universums zusammen zu einem Konglomerat von Formeln.« Es fehle, so Monsieur Piatti, der Orpheus, der Sänger. Er warf einen geschwinden Blick auf seine Armbanduhr. »Ach, es ist Zeit, ich muß mich um neu angekommene Gäste kümmern, es ist die Stunde für weißen Wein.«

Das Hölderlin’sche Ideal der Stille, derBesonnenheit. »… und wo / Des Sonntags unter Tänzen / Gastfreundlich die Schwellen sind, / An blüthenbekränzten Straßen, stillegehend. / Sie spüren nämlich die Heimat.« (StA 2,1; p. 237) Dort, in einer Stille eben, ist der Mensch, der Geworfene, in Ansätzen zu Hause. In Anlehnung an Jes. 57, 20 (»Aber die Gottlosen sind wie das ungestüme Meer, das nicht still sein kann und dessen Wellen Schlamm und Unrat auswerfen«) beklagt Hölderlin ein Hingehn über die Erde, das ständig aus sich heraus nach außen hin drängt, redet und redet, selbstvergessen kauert in der nicht enden wollenden Wortekstase. Hölderlin verachtet das Geschwätz: »Und freigelassen der Nachtgeist / Der himmelstürmende, der hat unser Land / Beschwätzet, mit Sprachen viel, unbändigen, und / Den Schutt gewälzet / Bis diese Stunde.« (Hölderlin, StA 2,1; p.234) Wo anders, angesichts einer Omnipräsenz des Bildschirms, die Stille finden als in der Poesie, dem behutsam gesetzten Wort? Wo anders die Stille finden (jenseits der Biennalen, deren Getue, Zusammenschütten medialer Großereignisse, lärmend) als in einer Graphik, in welcher die Stille eines Hinterhofateliers anklingt? Besonnenheit der »Hommage à Mihály András« von György Kurtág! Das gottesdienstlich ›Stille Gebet‹ sonntagmorgens (Zentrum jeder Liturgie). »Vor welchen Tempeln werden Kinder / Im schwarzen Auto weinen / Eines vielleicht gar nicht fernen Tages ?« (aus Liturgien eines Januars)

Eine Viertelstunde des heftigsten Schneefalls im späten April. Schmuck, einem Nachmittag um den Hals gelegt. Ich bin verliebt in Digressionen, Abschweifungen im Tristram Shandy; ach, das Ausrufen von Dingen, die mit einem strikten Handlungsverlauf nichts zu tun haben, die man, so beliebig und willkürlich sie auch eingestreut, im Rückblick doch, ihrer charmanten Anarchie wegen, zu schätzen geneigt ist. Unser Leben erweist sich in dieser Hinsicht als ein entsprechendes Durcheinander. Die Naivität aller Geisteswissenschaften, vermute ich, besteht darin, daß man meint, einen roten Faden im Hingang der Geschehnisse aufspüren, heraustrennen, benennen, untersuchen zu können. Schlußendlich bleibt ein Staunen, ein Herumsitzen in kalten Caféstuben, ein Verweilen an den Ufern des Sees, ein verträumt lächelndes Hinsehn auf graue Mauern ferner Alpen. »Und was du hast, ist / Atem zu holen« (Hölderlin). Ich habe aufgehört, Zusammenhänge herstellen, verstehen zu wollen. Ich ziehe es vor, in den Digressionen des Tristram Shandy mich zu verlieren, die Linien zu betrachten, die eingezeichnet in die Handflächen jener Epoche, über welche anderes sich nicht sagen läßt, als daß unser Eingebundensein in Zeit unendlich bitter und zugleich von großer Schönheit. Eine Viertelstunde des heftigsten Schneefalls im späten April.

» … denn ich habe gelernt, welchen Wert Ortsnamen, Wegbiegungen, Hügel und Fährschiffe haben.« (Czesław Miłosz, aus: Mein Großvater Zygmunt Kunat) Das Gestalten einer Sprache setzt voraus den Namen. Der Name duftet, ist Anruf, steht für Bitteres, für das Kunterbunt, das sich unter einer vermeintlich eintönigen Fläche verbirgt. Verben verbinden späterhin, was Namen in ihrer Jeweiligkeit verkörpern, Adjektive dürfen in ihrer Fülle als Enkelkinder gelten des Namens; Grammatik als ganze wächst um die Reihe der Namen herum. Der Name – ein Ursprünglichstes? Damit ist eine ewige philosophische Frage aufgeworfen, die des Universalienstreits: Ob die Phänomene zuerst und der Mensch diese dann, mehr oder weniger willkürlich, benennt (wovon die Partei der Nominalisten ausgeht); oder: ob der Name sich (wofür die Realisten sich aussprechen) ursprünglicher als das späterhin Bezeichnete, nach seiner jeweilig phänomenalen Entsprechung fahndet. Der Streit darüber entzündete sich (philosophiegeschichtlich nachweisbar) in der Spätantike; er läßt sich in Texten verfolgen bis ins 14. Jahrhundert. Im XX. Jahrhundert ersinnen nominalistisch Gesonnene im Kontext der analytischen Philosophie neuerlich Argumente für ihre Position. Alain de Libera findet Spuren der Fragestellung im Denken Platons bereits; will heißen: es begegnet uns ein philosophiegeschichtlich bleibender Streit. Biblische Theologie deutet die Welt als aus der Sprache Gottes hervorgegangenes Phänomen (»Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.« Gn.1, 3) Der Name Gottes insofern gründend und denkbar anfänglich. Philosophie und Theologie mißachten den dritten Weg der Poesie, welcher die Erscheinung niemals nackt, immerzu jedoch vielschichtig gewandet, auratisch darstellt. Poesie sucht das auf die Bühne Tretende als Erscheinendes, in der Würde einer Präsenz, in gebotener Vielschichtigkeit zu skizzieren (Poesie will immer als Skizze gelten, niemals ein zu Ende Gelesenes behaupten). Poesie gräbt keine Ursprünge aus; faßt keine Finalität ins Auge; Poesie findet Genügen in der Erscheinung als solcher, gibt sich der Schönheit wie der Grausamkeit hin eines Phänomens, eines Geschehens. Poesie erschöpft sich in einem Jetzt. Die Fährschiffe der Assoziation (scheinbar beliebig wirkend zuweilen ihre Fahrt) kreuzen um das ins Auge Gefaßte. Miłosz, indem er die Bedeutung beschwört von Ortsnamen, Wegbiegungen, Hügeln, Fährschiffen, beruft sich auf den Schneefall, der in den Dingen anwest, auf das Beugen der Knie vor Altären, auf Rauch, der sein Wohin vergessen, auf den ewigen Wind, der weht, wo er will. Poesie betrachtet alles aus einer Ferne. Die philosophische Hand berührt, betastet, zerschneidet, der Philosoph insistiert, verwirft, poltert und stirbt; der Dichter schaut leise herüber aus unauflösbarer Ferne. »Betrachte den Tag, der ein Zitronenfalter / Eine Hand, die nach der Zeitung greift / Lämmer auf Theaterbühnen frieren einer Stadt« (aus Geburtstagsgruß im Monat Oktober)

Noch liegt ein Streifen Dunkelheit auf der Stunde. Wilhelm IX. von Aquitanien tritt, nach so vielen schlafend zugebrachten Jahrhunderten, von ersten frühen Vogelstimmen gerufen, in den Tag. Der Troubadour wirft sein Lied in den Wind; dabei die Melodie an Birkenwälder erinnert, an deren ungebrochenes Weiß; Melodie, der ein Ursprüngliches anhaftet, das melancholisch stille Fließen archaischer Flüsse. Bald wird Wilhelm IX., von einer Viole begleitet, auf dem Landesteg singen, an manchen Wegen singen, die in die Gassen führen der mittelalterlichen Stadt. L’histoire, die Todschattenschlucht – gleichwohl: der Troubadour ist da, spielt auf vor deinen Augen; unendlich erhaben seine Lieder; du hörst sie nicht; du gewahrst einzig Scherben auf dem Kopfsteinpflaster; des Troubadours Gesang ungehört verglüht. Niemand wohl, der stehen bliebe, innehielte, Gedanken ins Notizbuch zeichnete. Längst gehören wir, plappernd unablässig, einem Vorüberstürzen, Enteilen, einem In-die-Leere-Stürzen. Wer ihn jedoch sieht, den Troubadour! Feinsinnig und sacht die Birken Wilhelms IX. von Aquitanien entwerfen ein Gemälde, schreiben den gesungenen Tanz auf die Mauern deines Leben. Merke auf, der kyrios schreitet am Rhein entlang.

Wenn ich zurückblicke auf ein Leben, das ich am Ufer zugebracht des Sees, in großräumigen Büros, unter Wolkenstauden und Mauern des Regens, bin ich zu sagen geneigt, es habe wenig Großes (und doch alles) sich ereignet in der Tage Kammer. Ich bin dankbar, ich bin heiter gelaunt. Ich habe wahrhaftigen Menschen begegnen dürfen unterwegs und ich werde die Gedanken an diese einsamen, feinsinnigen und begabten, philosophisch inspirierten Einzelnen, ihr Sprachvermögen, ihre elegante Ehrlichkeit, ihre wunderbaren Augen, diese unzerstörbare Schönheit mit hinübernehmen in ein anderes Leben, hoffend stets, diesen Einzelnen dort drüben ein für allemal wiederbegegnen zu dürfen. Ich habe im Grunde die Grenzen meiner Heimatstadt nie überschritten, bin, wo immer ich mich aufgehalten, gleich in welcher Fremde, ein Kind geblieben jener Straßen und Gassen, dort ich Fußball gespielt und mit Kreide Figuren gemalt auf Stein und Teer. Ich bin geistig von niedriger Statur.Ich habe wenig verstanden vom Leben,habe nichts geleistet, bin wie ein Kieselstein an einen Strand geschwemmt worden ohne jeden Eigenwillen. Ich habe die Schulen besucht und die Universität, ich habe in Unwissenheit und Ahnungslosigkeit zugebracht die Tage. Materieller Reichtum hat mir nie etwas bedeutet. Ich habe ein paar Gedanken niedergeschrieben und oft getrauert und zahlreiche Gipfel erwandert der Alpen, ohne je über Grenzen hinausgeschaut zu haben des Daseins. Ich habe Häuser gebaut, welche nie den Kopf erhoben, welche Hütten der Armut geblieben, ständig vor sich hingestarrt haben anstatt die Augen aufzuheben und zu schauen.Und doch empfinde ich einen Reichtum sondergleichen, erachte ich mich als Beschenkter, bin ich der Reichste aller Menschen – habe ich doch, wenn auch nur Augenblicke lang, in die Augen schauen dürfen des Todes und zu begreifen vermocht, daß er mich nicht verschlänge, daß ich sanft in ihn hineingetragen würde von Händen, die keiner sähe. Was gäbe es Tieferes und Ergreifenderes in diesen Nächten, als ihn, den Tod, seine Nähe gespürt, seine Humanität begriffen, sein Atmen und seine Traurigkeit erfahren zu haben. Wanderer seit jeher, breche ich nun bald auf zur letzten großen Wanderung. Ich werde alles zurücklassen, was ich besessen auf Erden (schmales Besitztum, von eher lächerlich anmutenden Ausmaßen); bei mir tragen werde ich die Gedanken an ein paar Nachmittage an den Ufern der Jagst, des Neckars, des Rheins (Flüsse, die mir größer erschienen als irgend ein Reichtum). Die Städte, die ich gesehn, die Gärten, durch die ich geschritten, die Straßen, über die ich gefahren – das alles sind nur Schatten, die verglühn, Gras, welkendes Gras. Ich habe die alten Sprachen gelernt, antike Philosophen gelesen und studiert – sterbend werde ich alles vergessen,was sich in mein Gedächtnis eingegraben; allein, die Liebe zu meinen Flüssen werde ich nie vergessen können; kein Tod, der an dieser Liebe herumzufeilen, diese Liebe zu verheeren und zu zerstören die Macht hätte. Ich ziehe meinen Tod wie einen Koffer hinter mir her. Er ist nicht fest verschlossen, ich verliere immer wieder Gegenstände, Kleidungsstücke. Den nackten Leib des Hinscheidenden bedeckt nichts als nur der Stoff des grauen Mantels. Ich habe seit jeher die Mäntel geliebt. Der Rhein hat die allerschönsten Mäntel getragen. Ich lasse euch ungern gehn, ihr Sommer, wie sehr mir auch der Herbst die eigentliche Jahreszeit der Seele. Ich werde entlangstreifen an Flüssen, werde unter tintendunklen Wolken Riedgräser schwanken sehn im zusehends kälteren Wind. Und werde die Ulmen sagen hören, Melchisedek, der König von Salem, sei gar nie unter ihren Kronen hingeschritten, habe kein Brot gebracht und keinen Wein. Ich betrachtete einen rostigen alten Lastwagen, der vor dem Café geparkt hatte. Auf der Ladefläche lagen Stoffbündel und gebrauchte Schuhe in großer Zahl. Um das Gefährt herum stand eine Zahl disputierender Menschen; ich spürte, daß in ihnen, die durcheinanderriefen und wild gestikulierten und lauter und lauter schrien, eine Frage wohnte, die niemand zu beantworten in der Lage wäre – hielten sie doch immer wieder in alle Himmelsrichtungen Ausschau. Es gibt keine Moderne, kein Mittelalter, keine Antike; aus poetischer Sicht gibt es immer nur den archaischen, um sein Dasein kämpfenden Krieger (in diesem Fall den um einen Lastwagen herumgelagerten Menschenauflauf). Die Geschichte ist ein ewig wildes Tier. Niemand, der sagen könnte: Ich bin ein klein wenig geboren; ich werde ein bißchen sterben. Leben erweist sich unablässig als Totalität, als Hingabe an die unterschiedlichsten Gestalten des Kriegs. Leben ist Verbranntwerden auf den Altären von Krieg und Fabrik, Eros, Schlaf, Trübsal, Alter, Sich-glücklich-Wähnen. Ungern laß ich dich, o Sommer, gehn.

Die Treue eines kleinen Regens. Bewundernswert die Treue eines kleinen Regens, der auch in diesen Tagen seelischer Schmerzen von niemandes Seite weichen wollte. Es war kein schwarzer Regen; er hatte die Farbe eher eines weitgeschnittenen blauen Mantels oder Umhangs, wie viele ihn, wenn die Erinnerung nicht täuscht, während der Wintermonate getragen. / Er hatte, der kleine Regen, die Farbe eines Waldrands zur wunderbaren, armen Stunde, da der Vogelschrei geboren wird – Schrei, der versickern würde in der Erde unsrer Städte, im Stein der Straßen, der aschfarbenen Straßen. / Der kleine Regen spätherbstlich verklärter Tage hatte etwas vom sturen Grau der Uniformen des ersten großen Krieges, in welchen die Ahnen zu ziehen gehalten waren. / Kleiner dunkelblauer, schlachtfeldgrauer Regen, der Du bei den Menschen bleibst. / Über unsrer antlitzloser Zeit ging die Sonne auf , stürzten herab die Tauben der Dunkelheit, tauchten auf wieder aus den Tiefen der Bucht; und Grasbüschel ließen denken an das Haar der Toten. / Kleiner dunkelblauer, schlachtfeldgrauer Regen. / Die Seelen der Menschen dieser Tage waren zerrissen von inneren Kriegen, erinnerten in ihrer Gier nach Macht an Feldzüge, an Unwetter der grausamsten Art, erinnerten an Kriegsgefangenschaft gleichermaßen, an das Trinken schmutzigen Wassers, das Essen von Gras. / Sterben war den Menschen als eher beiläufig begangener Seitensprung erschienen. / Zwar galt es als tröstlich, inmitten aller Verheerungen und Zerstörungen noch einen Leiterwagen zu gewahren, wie der durch die Straßen gezogen wurde, daß Bücher gelesen und Weine getrunken, Häuser gebaut wurden. Die Seelen waren gleichwohl abgemagert und bleich. Seelen lagen wie Kriegsgefangene, Stoffetzen turbanähnlich um den Kopf gewickelt, auf der Ladefläche eines offenen Güterwaggons – Seelen waren von der Geschichte bestrafte und vergessene, lächerlich gewordene, schmutziggraue Krieger. Schneenässe war in den Stoff ihrer Mäntel gekrochen. / Die Seelen waren arme Kinder.

In zwölf Stunden werde ich auf einem Friedhof der Hohenlohe stehen, einen Freund zu beerdigen. »Ich bestatte die Toten und bin Zeuge der Transzendenz«, pflege ich, gefragt, worin das Wesentliche des Pfarrerseins bestehe, zu antworten. Ihr schönsten Flüsse, euer Anblick tröstet. Bruder Rhein, stundenlang bin ich, Schübe ertragend eisigkalten Windens, Schübe, die fremden Gezeiten gehorchen, an deinen Ufern entlanggeschritten und habe gewußt, daß ich einer anderen Zeit gehöre. Ich bin Bürger eines XXII. bzw. frühen XVIII. Jahrhunderts, »Ich bin ein Gast auf Erden«. Diese Zeit, die jetzige, mir mehr als fremd. Am Rande des Marktes, gestern in der Morgenfrühe, saß ein Bettler. Ich hatte nur große Scheine im Geldbeutel; beabsichtigte, nach dem Einkauf an diesem oder jenem Stand, zurückzukehren, ihm etwas zu geben, ihm ein paar Münzen in den Plastikbecher, der vor ihm auf der Straße stand, zu werfen. Ich kehrte, wie beabsichtigt, zurück – er war verschwunden. Auch er, der Bettler, einer anderen Epoche zugehörig, etwan ein Engel, der seinen Zug verpasst; Zug, der wohin führe? »Dörfer gibt es keine mehr. Nur mehr Städte, vom Salzwasser / umspült, ragen in den Tag, Städte, / die niemandem gehören. Ein Morgen im April. / Und kalt verregnet eine solche Frühe, die keine vierzig Kilo / auf die Waage bringt, die sich der Herkunft schämt. / Soldaten, die noch Kinder, tasten sich ins Freie. // Apriltag, der gelangweilt / vor dem Parkplatz der Fabrikruine stirbt.« (aus Kunstvoll gewoben das Tuch)