»Wenn wir einen wirklich scharfen Blick , ein echtes Empfinden für all das gewöhnliche menschliche Leben hätten, würden wir das Gras wachsen und das Herz des Eichhörnchens schlagen hören, und wir würden sterben am Donner, der auf der anderen Seite des Schweigens liegt. Wie es nun ist, gehen noch die Aufmerksamsten unter uns wohlwattiert in Dummheit einher.« (George Eliot, Middlemarch, Buch II, Kap. 20) George Eliot weist hin auf ein letztes Eingeschlossensein des Einzelnen in seine Gefühls- und Gedankenwelt; daß wir zur tatsächlichen Empathie, anderen Menschen, der erscheinenden Natur als solcher gegenüber, gar nicht fähig wären; daß die Gabe, zu überleben im Chaosmeer der Epochen, überhaupt nicht anders bewerkstelligt werden könne, als durch ein letztes und äußerstes Bezogensein auf das eigene Ich. Wir verlassen nie das Haus unserer eigenen Seele. Alles Reisen in ein Irgendwohin erwiese sich letztlich als Illusion. Wir treten allenthalben vor die Haustür, um dort stehen zu bleiben, sehnsüchtig in eine Ferne uns hineindenkend. »Du wirst keine neuen Länder entdecken, keine anderen Meere. / Die Stadt wird dir folgen. Du wirst durch dieselben Straßen / Streifen, in denselben Vierteln alt werden. / Dein Haar wird weiß in denselben Häusern. / Wo immer du hinfährst, hier wird deine Reise enden.« (Konstantin Kavafis, aus dem Gedicht Die Stadt) Poesie darf gelten als ununterbrochenes Ansinnen, dem Eingemauertsein in sich selbst schlußendlich doch zu entrinnen. Poesie erweist sich dem äußeren Abenteuer gegenüber mehr oder weniger als gleichgültig. Poesie ist die Erkenntnis, wie in den nächst gelegenenen, beiläufigen, flüchtigen Dingen des Wegrands, dem sprichwörtlichen Halm, das Universum, das denkbar Weiteste, Höchste, Göttlichste sich öffnet. Wie klein war die Jesus umgebende Welt! Überwältigend gleichwohl der kosmische Glanz eines einzigen Buchstabens der Heiligen Schrift. Im Schatten der großen Bühnen, der Bildschirme, der Parlamente, im Schatten der Verbrechen und Kriege, im Schatten eines geheuchelten Pathos wohnt das verspielte Kind, die Poesie. Dort, im verschatteten Hinterhof, im kleinen, kaum beachteten Geschehen, erscheinen Güte und melancholisches Lächeln; dort vermag der Einzelne aus sich herauszutreten, das Gras wachsen zu hören, den Anderen und das Andere der Natur zu erspüren. »… denn das Wohl der Welt hängt zum Teil von unheroischen Taten ab, und dass alles nicht so schlecht steht, wie es könnte, verdankt sich zum Teil der Zahl jener, die gewissenhaft im Verborgenen lebten und in vergessenen Gräbern ruhen.« ––– so der letzte, als schön und tröstlich zu bezeichnende Satz des Romans Middlemarch.

Ich begegnete einer Obdachlosen, kam mit ihr ins Gespräch. Auf dem Grund ihres Italienisch lag ein fremder Gegenstand. In ihrem Italienisch, das flüssig sich ausnahm und gewandt, klang etwas mit, das ich nicht näher zu bestimmen in der Lage war. »Ihr Italienisch klingt wunderbar«, sagte ich. »Ich spreche die Sprache keines Landes«, erwiderte sie. »Ich spreche die Sprache keiner Region, keines Landstrichs.« Ich wiederum unterstrich: »Aber ich verstehe, was Sie sagen; da klingt nur in allem Sagen ein äußerst elegant klingendes Fremdes mit an.« Sie erklärte: »Wenn Sie so wollen, bediene ich mich der Sprache des Rätsel-Romans Finnegans Wake; Roman (sofern es sich um einen solchen handeln sollte), mit dem ich mich seit Jahrzehnten beschäftige, den ich ununterbrochen studiere und zu memorieren suche; will sagen: ich mische in Hinsicht auf mein alltägliches Sagen und Sprechen (ganz wie im Roman) unablässig ein paar Dutzend Sprachen zusammen– stets bemüht indes, die Spur einer jeweiligen Landessprache zu verfolgen, daß ich überall andeutungsweise verstanden werden kann.« In diesen Augenblicken, dachte ich an die vielen Dörfer, in denen ich herumspaziert, besann ich mich auf die so unterschiedlichen Sprachen, die ich fragmentarisch wie auch spielerisch ansatzweise vernommen; ich gedachte der Seen, der Pfade, der Wälder und der kleinen Städte, der Kirchen, die ich gesehen, in welchen ich stille gestanden (versunken im Nachdenken über meine Herkunft, meine Wurzeln, den Weg meiner Jahre); ich mußte denken an die Schmucklosigkeit des modernen Europas, an die vom Juckreiz geplagte Haut besagten Kontinents, den so viele verachten und insgeheim doch lieben. Das Finnegans-Wake-Manuskript des James Joyce wanderte in Gestalt der obdachlosen Frau durch die Epoche. Was für ein Händeklatschen und Beten! Ach, ich durfte einer fremd anmutenden Muttersprache begegnen. »Jesus,« sagte die Frau, »hat in gleicher Weise wie ich diesen immerzu fremden Grund heimatlichen Sprechens anklingen lassen in seinen Ausführungen.«

Aus Gründen der mir eigenen Ungeschicklichkeit fällt meine Umhängtasche zu Boden. Ein Vorübergehender sagt: »Hoffentlich ist keine Vase drin.« Ich entgegne augenblicklich: »O, etwas viel Zerbrechlicheres noch.« Er: »Ja, was denn?« Ich zögere, schaue in die Ferne, erinnere die Lektüren, über denen ich vor Stunden gesessen; ich gestehe: »Zwei Bücher.« Er hakt nach: »Was für Bücher?« Es gehört zu meiner Art des eher langsamen Sprechens, daß ich mich einmal mehr umschaue, die unweit entfernte Grauerle ins Auge fassend, um endlich zu antworten: »Den Gedichtband Ars moriendi von Georg Johannesen und das ›long poem‹ Anathémata (Fragmente eines Schreibversuchs) des David Jones. Der mich angesprochen, bestätigt, bevor er weitergeht: »Da tragen Sie wirklich Zerbrechliches mit sich herum.« Ich denke, daß besagte Bücher in der Tat ausgesprochen fragil sind. Kriege, so hört man allerorten, große Monde, sollen blühn an Straßenrändern.

Zugfahrten zuweilen, die unauslöschlich in Erinnerung bleiben, dadurch daß sie, ach ihr Blicke aus den Fenstern, Eindrücke schenken von Landschaften, Stadtbildern, großformatige Flächen der Seen. Zuletzt, im Sinne einer Offenbarung, die flüchtige Schau der Stadt Chiasso, der vorbeistreichende Zug, die sekundenlang sich öffnende Perspektive, die unvergessen bleiben wird, ohne daß ich wüßte um ein Warum. Die Augenblicke stets, die Splitter. Unerklärlich, warum das eine Bild, die eine Begegnung, das eine Geschehen, in Erinnerung bleibt, so viele tausend andere Dinge untergehen. Das Leben ist atonal. Vergeblich die Suche nach Harmonien. »Bodennebel nehmen allen Kanten eines Wintermorgens jede Schärfe. / Klang poetischer Choräle auf nassem Asphalt gefriert: / … durch so viel Angst und Plagen,/ durch Zittern und durch Zagen, / durch Krieg und große Schrecken, / die alle Welt bedecken.* / Heiter gestimmt greif ich in meine Manteltasche, lege dem alten Bettler / Aus der Nachbarschaft ein Scheinchen in die Hand, in seine aufgehaltene / Hand. Ich sage: »Gesegnet, O Bruder, gesegnet sei Deiner Augen Licht.« / Er merkt auf, deutet die Verneigung an des Haupts, um wieder / Zurückzusinken in die Einsamkeit. // Sieben Tauben auf dem Tempeldach. / Über Stunden hin der stürzende Regen. / Im Nebel verloren die Tauben, Tauben ohne Kindermädchen. / Reglos die Tauben auf ihren Ziegeln, ihren Drähten. / Allein, die Tauben, welche Farben tragen alter Mauern, wie alle Steine / Dieser Gegend um den See, regungslos, zu Sekundenzeigern erstarrt. // Nichts, das zu erzählen wäre. Da ist nur die Unschuld der Ereignisse; / Töne eher, die nur fallen, fallen, fallen, als daß ein Steigen ihnen eigen wäre. / Ach, ein Fallendes stets: Gnade zu guter Letzt, welche kommt herabgeklettert / Über eine Hausfassade. Ewig dies Wuchernde einer Vegetation; / Ein Allüberwucherndes. Die Jakobsleiter wäre umgestürzt.« (Gelübde der Atonalität) ––– (* Paul Gerhardt, 1653)

Die amerikanische Soziologin Monica Black fragt: »Was bedeutet es für uns alle, wenn eine Nation sich so rasch von der Errichtung von Auschwitz auf den Aufbau einer im Neonlicht glänzenden Überflussgesellschaft umstellen kann?« Es bedeutet, aus meiner Sicht, daß Geschichte nicht gestaltet werden kann von Menschen. Man kann sich gegen vermeintliche Entwicklungen stemmen; versuchen, sich zu wehren gegen dies und das. Ein gestalterisches Moment scheint uns verwehrt. »Niemand macht die Geschichte, man sieht sie nicht, ebensowenig wie man das Gras wachsen sieht.« (Boris Pasternak). Es gibt die Möglichkeit der Flucht: Orte bieten sich an, die ein vielleicht freieres Verbringen der Tage zulassen; gleichwohl wird man überall wenigstens von der einen oder anderen Banalität eingeholt. Dieser Aura der griechischen Tragödie zu entkommen, wird nie gelingen. Ein Irrtum, zu glauben, Christus hebe das tragische Denken auf (darüber könnte ich viel, viel schreiben; wiewohl man angesichts der Tragödien am ehesten schweigt). Christus hat die von Pontius Pilatus gestellt Frage: »Was ist Wahrheit?« (Joh.18, 38) nicht beantwortet. Eine Künstlerein äußert sich angesichts der tragischen Wirklichkeit wie folgt: »In einer Villa an der Mittelmeerküste, eingemauert in mein Blindsein, habe ich mich bekehrt. Nunmehr herrschen in meinem Werk konstant 37 Grad. 37 Grad, das ist durchschnittlich fieberfreie Körpertemperatur. Eine handwerklich-nüchtern gestimmte Hand führt Protokoll im malariaverseuchten Terrain eines Europas der Jahrhundertwenden. Dahingehend spreche ich von Umkehr: Strich und Schraffur wie Pinselführung bleiben einer Handwerklichkeit, der Werkstattemperatur von 37 Grad, äußerst streng verpflichtet. Ich klage nicht mehr an. Ich streife mit den Familien an den Marktständen vorüber; ich backe Brot und lege meine kunstschaffende Hand den Sterbenden dieser Erde bescheiden, äußerst behutsam auf die Stirn. Ich tauche das von Künstlerhand Geschaffene in ihr Grab. Ich pfeife Nietzsches kleines Lied: »Alles was wir können ist ein bißchen singen und ein bißchen seufzen.«(aus einem Romanmanuskript) Aufmerksamkeit beanspruchen darf die Aussage des ungarischen Romanciers Péter Nádas. Er wurde gefragt: »Welche Bedeutung messen Sie der Literatur bzw. der Kunst bei?« Seine Antwort: »Alles andere ist Dreck. Nur Musik, Malerei, Tanz, einige Skulpturen, einiges Gedruckte, besonders Dichtung, sind von Wichtigkeit. Das ist eine radikale Position.Auch mir tut es leid, so etwas zu sagen. Den Satz habe ich von einer alten Frau einfach übernommen. Sie arbeitete im Atelier, wo ich fotografieren lernte. Sie war eine wunderbare Retoucheurin, aus Auschwitz zurückgekehrt. Sie sagte den Satz ganz beiläufig, und ich war erschüttert. Jahrzehntelang brachte ich diesen Satz nicht mehr aus meinem Kopf. Jetzt verstehe ich ihn.« Musik, Malerei, Tanz, einige Skulpturen, einiges Gedruckte, besonders Dichtung, seien von Wichtigkeit, so Nádas, so die Retoucheurin, die Auschwitz überlebt hat. Ich stimme zu ohne Wenn und Aber. Allein, ich würde das Niederknien vor Christus für noch anspruchsvoller erachten. In Christus ist die Poesie zu Hause angelangt.

Immer mehr Menschen verlieren die Freude an der Arbeit. Es scheint ein Leichtes, Mächte und Größen zu benennen, die das Ihre dazu beitragen. Die acht oder zehn oder … Stunden im sogenannten ›Homeoffice‹, im Büro, in der Fabrikhalle, im Ministerium, in Klassenzimmern, an der Kasse eines Supermarkts – die sich ausbreitende Freudlosigkeit am Arbeitsleben sei, bekomme ich zu hören, einem zunehmenden Eingebundensein in digitale Kommunikationsformen geschuldet; gesprochen wird vom Zugriff eines blindwütigen Kapitalismus, Zugriff der Internet-Konzerne und gar fremder Geheimdienste auf unsere Weltwahrnehmen ––– wer wüßte nicht Bescheid. Frage ich jedoch nur einen Millimeter über den Tellerrand dieser soziologischen, politischen Allerweltsweisheiten hinaus, folgt Schweigen, Ratlosigkeit. Ich frage tiefer: Warum konnte besagte Seelen-Verdunklung um sich greifen? Warum? Was ist geschehen? Warum die dunkle Wolke über Europa, welche Francesco Clemente, gegen Ende des letzten Jahrhunderts, aus dem Flugzeug erkannt (Trauer-Wolke, um welche Dostojewski und Nietzsche bereits gewußt)? Das Gedicht Extra muros öffnet die Tür zu einem ersten tiefer gehenden Verstehen: »Erschöpfte Menschen wohnen in Kasernen / Unterdessen draußen eine Welt, die unablässig neu sich kleidet: / Wetter in verschmutzten, ziegenkotbeschmutzten Mänteln, / Gleichermaßen im Brokat jedoch des Königs Salomo; / Wetter, die, Wolken einer Hungersnot, feierlich vorübergehn // Draußen Ruinen werden gebaut und Straßen, / Hineingezeichnet in den Staub der Erde, draußen / Schreiten schöne Frauen weinend durch die Gassen / Portos oder Avignons, Tänzerinnen elegant; / Draußen sterben Kinder, werden die Menschen gequält, / Fahren weiße Schiffe aus den Häfen // Wenige, die in Schriften vertieft: Vor deren Augen / Immer nur das Meer der Buchstaben, / Meer, darüberhin die Kähne treiben eines oft Gedachten, / Abgenutzten – und wissen doch, die Sinnenden, / Ohne es geschaut zu haben, um das Draußen, / Gewahren als in Sich-Vertiefte, / Was sich zuträgt vor den Mauern. // O Kammer im hitzegebeugten Haus; Kammer, die ein Zugabteil – / Man muß nicht gesehen haben alles, um zu erahnen, zu verstehn. / Der Stubenhocker weiß vielleicht viel mehr, als wir geneigt sind, anzunehmen.«

Die Menschheit hat Höhlen verlassen der archaischen Welt, hat antike Welten, Mittelalter, verlassen; Neuzeiten … Die Menschheit wird die Welt der Künstlichen Existenz verlassen – eines eher ferneren Tages. In einem abrahamitischen Sinne war sie ständig unterwegs; wird unablässig aufbrechen, sich abwenden, in neue Fernen hinein sich tasten. Epoche reiht sich an Epoche. Kulturen, Zivilisationen. Sie sagen, der homo sapiens sei um die 300 000 Jahre alt. Er hat Waffen, Pflüge, Mobiliar, Maschinen erfunden, sein Wissen differenziert und differenziert, er hat Werke geschaffen der Kunst; seit jeher die Tänze, Gesänge, Liebe, Religionen (Kulte, Rituale, Tempel; die Welt der Transzendenz, die immer neue Sprachgestalten erobert). Ein Kind spielt hinter einer Hütte, die Dame steigt aus einem soeben gelandeten Flugzeug, eine Greis brät Bohnenschoten. Kriege. Herbergen und Gräber. In allem Wandel dürfen Geburt und Tod als einzigartig Beständiges gelten. Inmitten der endlosen Vielfalt von Begriffen stehen unverrückbar die Monumente von Geburt und Tod. Sie wechseln die Masken. Ihre Präsenz: das einzig Bleibende, Unveränderbare; es gibt keinen Exodus während des Aufenthalts auf Erden aus dieser Welt des Geborenwerdens und Sterbens, des Erscheinens und Verlöschens. Alle Denkspiele in Richtung Herrschaft über biologische Konstellationen zerbrechen am unüberwindbaren Tatbestand der Endlichkeit. Nicht ausgenommen vom Sterbenmüssen, Gott sei es gedankt, ist die Tyrannis in allen möglichen Gestalten, in all ihrer Dummheit, in ihrem Besoffensein. Ich betrachte morgens um 4 Uhr einige Sterne, die schüchtern wirken in ihrem Scheinen, weltabgewandt, bzw. andern Welten zugewandt (solchen der paracelsischen Imagination: »Wer in der Imagination geboren ist, entdeckt die verborgenen Kräfte der Natur …Neben den fest gegründeten Sternen gibt es einen anderen – die Imagination –, und der zeugt einen neuen Stern und einen neuen HimmelParacelsus). Ich streiche die Haare mir aus der Stirn, gieße im Dunkel der noch schlafenden Stadt die Lorbeerbäumchen des Balkons. Notizen, Notizen, Zahlenkolonnen. »Der Rechenstift empfängt die letzte Ölung. / Das Eintauchen des Stifts in goldnen Wein; // Gegenstände auch rufen nach dem Kult.« (… und vergib uns unsre Schuld)

»O mein Papa, war eine wunderbare Clown / O mein Papa, war eine grosse Kinstler / Hoch auf die Seil, wie war er herrlich anzuschau′n / O mein Papa, war eine schöne Mann…« Ursprünglich ein Chanson aus den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts; später wurde daraus ein berühmter Schlager, ein Evergreen. Der Text kreist um einen Zirkusartisten, der von seinem Kind besungen, bestaunt, verehrt wird. Gibt es wunderbare Menschen? Bei aller Skespsis, eingedenk des Wissens auch, wieviel Lüge und Abgrund in jeder Person potenziell anwest, möchte ich doch sagen: Ja, es gibt ihn, den wunderbaren, bewundernswerten Menschen. Wir begegnen zuweilen Einzelnen, die einen in ihren Bann ziehen. Sobald man anfängt, nachzudenken, geht die Faszination verloren. Es sind immer erste Augenblicke der Begegnung, die uns veranlassen, jemandem mit staunender Aufmerksamkeit gegenüberzutreten. Sogenannte wunderbare Menschen, Clowns, Akrobaten, Künstler, Hochgebildete, von Barmherzigkeit Kündende, ehrliche Wesen … veranlassen mich, darüber nachzudenken, ob diese Brise des Wunderbaren auf dem Antlitz eines Menschen darauf hindeutet, daß besagter Glanz nicht aus dem Einzelnen selbst komme, vielmehr als Windhauch göttlicher Herkunft, göttlichen Ursprungs (im Sinne eines langen Nachhalls) wahrnehmbar sei. »… ich verstehe nichts, erinnre nur / dies eine Wort, dessen Krone all die Kreise überragt / der Lügen. // Winter, der an Weinberghalden oft, / an Kelter, Feldsteinmauer, Unterstand / entlanggeschlendert selbstvergessen. / Die graue Arbeitsmantelkluft im Morgen welkt. // Belanglos wär‘ dies Wort, sofern es dunkler Flüsse Ufer flöhe« (Heimath). Sappho, die im Schatten schläft der Terebinthe. Das schöne Antlitz eines Menschen. Wunderbares im Exil der Dichtkunst.

Ein einziges Boot liegt an der Uferallee, meiner geliebten Konstanzer Rive Gauche. Die Barke, wann immer ich an ihr vorüberschreite, stellt mir die Frage, ob die derzeitige Krise der europäischen Zivilisation den bevorstehenden Untergang andeute, oder ob wir vor einem Neuanfang stünden. Ich antworte regelmäßig, daß ich, vom baumeisterlichen Denken und Empfinden eher getragen, die Offenbarung einer hohen Kultur vorausahne. Etwas sei im Aufgehen begriffen, von dem allenthalben Poesie, Musik, Malerei und Tanz und Gebet, weit entfernt von einer klar umrissenen Begrifflichkeit, zeugen würden. Die Barke fragt, ob dies Neue von Gott ausgehe, ob es der Menschenhände Werk eher sei? Ob beides ineinanderspiele? Ich bin um eine Antwort verlegen; summe eine kleine Melodie, in welcher etwas anklingt von geistiger Anmut wie auch Kargheit, von Ernst und Gelassenheit. Ich steige zur Barke hinunter an die Anlegestelle, lege die Hand ihr, bildlich gesprochen, auf die Schulter, wünsche ihr ein geistüberglänztes Jahr. Arme Barke, Du vermißt Deine Geschwister, deren Umtriebigkeit, deren Sich-Verlieren in gedankenloser Alltäglichkeit; wann wird man sie wieder zu Wasser lassen, all die anderen Boote des Sommers, die bunt lackierten und oft schwer beladenen, vielsprachig durch alle möglichen Wetter sich mühenden Kinder des Sees?

Auf dem Bahnsteig die Uhr: der Sekundenzeiger läuft rückwärts. Die Züge verachten den Fahrplan und fahren, wann sie wollen. Das Fest der Anarchie hat begonnen und wir sind eingeladen, auf die Tanzfläche uns zu wagen. Wir dürfen Fragebögen ausfüllen auf Seiten des Internets, ohne zu verstehen, wie das gelingen soll (& brüten stundenlang über Anleitungen, welche Tastenfolge zu tippen sei; und werden dabei entmündigt ganz und gar) – übrigens: was für ein nettes Wort: ›Internet‹; Tränen rinnen über meine Wangen; ein Netz, das uns alle verbinden möchte und uns doch nur nackt erscheinen läßt. Adam und Eva gewahrten, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen eine Frucht gepflückt und diese gegessen, daß sie nackt waren. Entdecken wir unsere Nacktheit heute? Militärisch geordnet marschiert karnevalesque eine Musikkapelle durch die alte Stadt. Sich geschwind heut noch die Fingernägel feilen und lackieren lassen in Kellergewölben und Tavernen, im vormals gastlichen Haus. Ein hübsches kleines Land, in dem ich wohnen darf; ein Württemberg, welches der Welt gefällt. Das Tübinger Stift könnte als Hotel auch dienen der Unzahl seelisch Obdachloser; Ort, an welchem man über Stunden hin ans Telephonspielzeug sich verschenken könnte, ohne daß eine Mama mahnen würde: Leg doch endlich das Ding aus der Hand. Und dürfen uns ausführen lassen von elegant gekleideten, schlanken Hunden. Mamma mia, was für ein hoher Tag. Ich möchte sagen: ›Vaterland‹ – o das ist gefährlich; schau dich um, damit niemand dein Flüstern vernimmt. Alles, nur nicht diesen Teil von Hölderlintexten zitieren! Extra muros der Krieg; ganz viel Apokalyptisches – ich würde abraten davon, in der Heiligen Schrift zu blättern (dort klingt alles zu sehr nach Gebet, nach Flehen, Stirnrunzeln und Fragen). Die Lektüre von Kassenzetteln darf ich dagegen anempfehlen: dort die Zahlen schön geordnet. Oder einfach ein klein wenig zwitschern, auf Zehenspitzen gehn, den Joint sich drehn. Alles gut. Kol tov. Eine müde Katze trägt, ihr Dorf verlassend, das Abendkleid. Wohin willst du fliehn, du Schöne? » … Fragen wurden, Gräbern gleich / und Gruben, ausgehoben, wieder zugeschüttet im Rhythmus / jener Linienbusse, deren Kommen, deren Gehn ein uns / seit jeher schon Vertrautes; und sprachen vom Fehlen / der Gewitterfront an Rändern unserer Sprache; über Kraniche, / flüchtig gefaltet aus Papier, sprachen herbstlang von der / innern Not der Kunst, von der Vokale altjahrabenddunklem / Scheinen; sprachen vom Schweigen der Theater, / der heiligen Theater – nicht nur, daß Kirchen erstarrt und leer.« Messianisches Dunkel sickert in die offenen Hände eines morgendlichen Denkers. Messianisches Dunkel, o woher?