Die amerikanische Soziologin Monica Black fragt: »Was bedeutet es für uns alle, wenn eine Nation sich so rasch von der Errichtung von Auschwitz auf den Aufbau einer im Neonlicht glänzenden Überflussgesellschaft umstellen kann?« Es bedeutet, aus meiner Sicht, daß Geschichte nicht gestaltet werden kann von Menschen. Man kann sich gegen vermeintliche Entwicklungen stemmen; versuchen, sich zu wehren gegen dies und das. Ein gestalterisches Moment scheint uns verwehrt. »Niemand macht die Geschichte, man sieht sie nicht, ebensowenig wie man das Gras wachsen sieht.« (Boris Pasternak). Es gibt die Möglichkeit der Flucht: Orte bieten sich an, die ein vielleicht freieres Verbringen der Tage zulassen; gleichwohl wird man überall wenigstens von der einen oder anderen Banalität eingeholt. Dieser Aura der griechischen Tragödie zu entkommen, wird nie gelingen. Ein Irrtum, zu glauben, Christus hebe das tragische Denken auf (darüber könnte ich viel, viel schreiben; wiewohl man angesichts der Tragödien am ehesten schweigt). Christus hat die von Pontius Pilatus gestellt Frage: »Was ist Wahrheit?« (Joh.18, 38) nicht beantwortet. Eine Künstlerein äußert sich angesichts der tragischen Wirklichkeit wie folgt: »In einer Villa an der Mittelmeerküste, eingemauert in mein Blindsein, habe ich mich bekehrt. Nunmehr herrschen in meinem Werk konstant 37 Grad. 37 Grad, das ist durchschnittlich fieberfreie Körpertemperatur. Eine handwerklich-nüchtern gestimmte Hand führt Protokoll im malariaverseuchten Terrain eines Europas der Jahrhundertwenden. Dahingehend spreche ich von Umkehr: Strich und Schraffur wie Pinselführung bleiben einer Handwerklichkeit, der Werkstattemperatur von 37 Grad, äußerst streng verpflichtet. Ich klage nicht mehr an. Ich streife mit den Familien an den Marktständen vorüber; ich backe Brot und lege meine kunstschaffende Hand den Sterbenden dieser Erde bescheiden, äußerst behutsam auf die Stirn. Ich tauche das von Künstlerhand Geschaffene in ihr Grab. Ich pfeife Nietzsches kleines Lied: »Alles was wir können ist ein bißchen singen und ein bißchen seufzen.«(aus einem Romanmanuskript) Aufmerksamkeit beanspruchen darf die Aussage des ungarischen Romanciers Péter Nádas. Er wurde gefragt: »Welche Bedeutung messen Sie der Literatur bzw. der Kunst bei?« Seine Antwort: »Alles andere ist Dreck. Nur Musik, Malerei, Tanz, einige Skulpturen, einiges Gedruckte, besonders Dichtung, sind von Wichtigkeit. Das ist eine radikale Position.Auch mir tut es leid, so etwas zu sagen. Den Satz habe ich von einer alten Frau einfach übernommen. Sie arbeitete im Atelier, wo ich fotografieren lernte. Sie war eine wunderbare Retoucheurin, aus Auschwitz zurückgekehrt. Sie sagte den Satz ganz beiläufig, und ich war erschüttert. Jahrzehntelang brachte ich diesen Satz nicht mehr aus meinem Kopf. Jetzt verstehe ich ihn.« Musik, Malerei, Tanz, einige Skulpturen, einiges Gedruckte, besonders Dichtung, seien von Wichtigkeit, so Nádas, so die Retoucheurin, die Auschwitz überlebt hat. Ich stimme zu ohne Wenn und Aber. Allein, ich würde das Niederknien vor Christus für noch anspruchsvoller erachten. In Christus ist die Poesie zu Hause angelangt.

Autor: fentzloff

Ulrich Fentzloff, 1953 in Ludwigsburg geboren und aufgewachsen. Kind poetisch verklärter Tage in einem Württemberg des Geistes. Studium der Evang. Theologie und der Philosophie an der Universität Tübingen. Vikar in Leonberg-Silberberg. Pfarrverweser in Unterlenningen, am Fuße der Schwäbischen Alb. Gemeindepfarrer in Kirchberg/ Jagst (Hohenlohe), an der Johanneskirche in Stuttgart, und schließlich, 25 Jahre lang, bis Sommer 2016, in Langenargen am Bodensee. Lebt als Dichter in Konstanz. Absichtlich deckt den Ausgang des Tages zu, Umnachtet das Zukünftige uns der Gott Und lacht, wenn sterblich eins zu sehr be- Sorgt, was geschehen wird. (Horaz, in der Übersetzung Friedrich Hölderlins)