Die Treue eines kleinen Regens. Bewundernswert die Treue eines kleinen Regens, der auch in diesen Tagen seelischer Schmerzen von niemandes Seite weichen wollte. Es war kein schwarzer Regen; er hatte die Farbe eher eines weitgeschnittenen blauen Mantels oder Umhangs, wie viele ihn, wenn die Erinnerung nicht täuscht, während der Wintermonate getragen. / Er hatte, der kleine Regen, die Farbe eines Waldrands zur wunderbaren, armen Stunde, da der Vogelschrei geboren wird – Schrei, der versickern würde in der Erde unsrer Städte, im Stein der Straßen, der aschfarbenen Straßen. / Der kleine Regen spätherbstlich verklärter Tage hatte etwas vom sturen Grau der Uniformen des ersten großen Krieges, in welchen die Ahnen zu ziehen gehalten waren. / Kleiner dunkelblauer, schlachtfeldgrauer Regen, der Du bei den Menschen bleibst. / Über unsrer antlitzloser Zeit ging die Sonne auf , stürzten herab die Tauben der Dunkelheit, tauchten auf wieder aus den Tiefen der Bucht; und Grasbüschel ließen denken an das Haar der Toten. / Kleiner dunkelblauer, schlachtfeldgrauer Regen. / Die Seelen der Menschen dieser Tage waren zerrissen von inneren Kriegen, erinnerten in ihrer Gier nach Macht an Feldzüge, an Unwetter der grausamsten Art, erinnerten an Kriegsgefangenschaft gleichermaßen, an das Trinken schmutzigen Wassers, das Essen von Gras. / Sterben war den Menschen als eher beiläufig begangener Seitensprung erschienen. / Zwar galt es als tröstlich, inmitten aller Verheerungen und Zerstörungen noch einen Leiterwagen zu gewahren, wie der durch die Straßen gezogen wurde, daß Bücher gelesen und Weine getrunken, Häuser gebaut wurden. Die Seelen waren gleichwohl abgemagert und bleich. Seelen lagen wie Kriegsgefangene, Stoffetzen turbanähnlich um den Kopf gewickelt, auf der Ladefläche eines offenen Güterwaggons – Seelen waren von der Geschichte bestrafte und vergessene, lächerlich gewordene, schmutziggraue Krieger. Schneenässe war in den Stoff ihrer Mäntel gekrochen. / Die Seelen waren arme Kinder.

Autor: fentzloff

Ulrich Fentzloff, 1953 in Ludwigsburg geboren und aufgewachsen. Kind poetisch verklärter Tage in einem Württemberg des Geistes. Studium der Evang. Theologie und der Philosophie an der Universität Tübingen. Vikar in Leonberg-Silberberg. Pfarrverweser in Unterlenningen, am Fuße der Schwäbischen Alb. Gemeindepfarrer in Kirchberg/ Jagst (Hohenlohe), an der Johanneskirche in Stuttgart, und schließlich, 25 Jahre lang, bis Sommer 2016, in Langenargen am Bodensee. Lebt als Dichter in Konstanz. Absichtlich deckt den Ausgang des Tages zu, Umnachtet das Zukünftige uns der Gott Und lacht, wenn sterblich eins zu sehr be- Sorgt, was geschehen wird. (Horaz, in der Übersetzung Friedrich Hölderlins)