Der Besitzer des Hotels, Monsieur Piatti, fragte, warum keine großen Romane mehr geschrieben würden? Er führte aus: »Alles ist geistig klein geworden, weil wir den Künstler als stillen Handwerker und Denker der Kunst nicht mehr unter uns wissen – alle sind Spezialisten geworden; der Spezialist begreift keine Zusammenhänge, hat keinen Überblick über das Ganze einer Epoche; keine metaphysische Frage, welche sein Werk trüge. Was fehlt, ist der Blick des Türmers, der Blick des Wächters, wie in der griechischen Tragödie beschrieben. Sie wissen doch, daß der Spezialist erstickt im Mikrokosmos seines Geistes und für den Astrophysiker schrumpft die Weite des Universums zusammen zu einem Konglomerat von Formeln.« Es fehle, so Monsieur Piatti, der Orpheus, der Sänger. Er warf einen geschwinden Blick auf seine Armbanduhr. »Ach, es ist Zeit, ich muß mich um neu angekommene Gäste kümmern, es ist die Stunde für weißen Wein.«

Autor: fentzloff

Ulrich Fentzloff, 1953 in Ludwigsburg geboren und aufgewachsen. Kind poetisch verklärter Tage in einem Württemberg des Geistes. Studium der Evang. Theologie und der Philosophie an der Universität Tübingen. Vikar in Leonberg-Silberberg. Pfarrverweser in Unterlenningen, am Fuße der Schwäbischen Alb. Gemeindepfarrer in Kirchberg/ Jagst (Hohenlohe), an der Johanneskirche in Stuttgart, und schließlich, 25 Jahre lang, bis Sommer 2016, in Langenargen am Bodensee. Lebt als Dichter in Konstanz. Absichtlich deckt den Ausgang des Tages zu, Umnachtet das Zukünftige uns der Gott Und lacht, wenn sterblich eins zu sehr be- Sorgt, was geschehen wird. (Horaz, in der Übersetzung Friedrich Hölderlins)