Jeden Abend schaut zur Zeit der Regen vorbei; flüchtig sein Gruß. Er ist von eleganter Erscheinung in seinem grauen Philosophenmantel. Er beharrt darauf, daß Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre bedeutend sei– erinnere sie doch daran, daß unser irdisches Leben in verschiedene Bereiche zerfalle. Daß wir niemals in einer Wirklichkeit nur existierten. Ich möchte nachfragen. Er ist bereits weitergezogen, der abendliche Regen. Er schaut über die Schulter zurück und ruft mir aus der Ferne zu, alles stünde in Büchern. »Du mußt nur eine Bibliothek aufsuchen. Dort findest du Luthers Schrifttum.« Ach, die entscheidenden Schriften fänden sich auch in meiner eigenen Bibliothek. Ich habe seit jeher gedacht, Luther sei zu wenig verrückt. Nun aber die lobenden Worte des abendlichen Regens. Ich vermute, der Regen wollte mich darauf aufmerksam machen, daß wir mit unserem Alltagsgepäck, unserem Herumstehen in Bahnhofshallen, unserem Warten in Arztpraxen, unserem Kochen und Staubsaugen, unserer Abhängigkeit von der digitalen Autorität, viel zu langweilig seien, um diesen geistigen Wandermönch des späten Mittelalters verstehen zu können. Luther habe, meinte der Regen andeuten zu müssen, ganz wie Hiob, wie Sophokles und Euripides die Moderne prophetisch vorausgesehen. Der Regen kehrte nochmal um, trat ans Stadttor und erzählte es allen Schlafwandlern: Luther habe wie kein anderer jene Geworfenheit, welche den Heutigen so sehr zu schaffen mache, die Ohnmacht des einzelnen, in großen Bildern, in Worten seiltänzerischer Poesie (zu hoch für unsre kleinen Ohren) ausgesagt. Der Regen rastete am Straßenrand. Er aß Brot und Nüsse. Er sah schön aus in seinem Mantel. » … Milder Regen / Von der Farbe eines dunkelblauen Mantels, wie viele ihn, / Während all der Winter, über Jahreszeiten hin, getragen. // Kleiner Regen von der Farbe jener Tinte, mit welcher man / Die Trauer auf das Papier der Friedhöfe geschrieben; / Von der Farbe eines Waldrands zur wunderbaren, / Armen Stunde, da der Vogelschrei geboren wird… // Kleiner dunkelblauer, schlachtfeldgrauer Regen, / Gottesdienstlich, auch altschön.« (aus Kleiner Regen heimatlos)

Autor: fentzloff

Ulrich Fentzloff, 1953 in Ludwigsburg geboren und aufgewachsen. Kind poetisch verklärter Tage in einem Württemberg des Geistes. Studium der Evang. Theologie und der Philosophie an der Universität Tübingen. Vikar in Leonberg-Silberberg. Pfarrverweser in Unterlenningen, am Fuße der Schwäbischen Alb. Gemeindepfarrer in Kirchberg/ Jagst (Hohenlohe), an der Johanneskirche in Stuttgart, und schließlich, 25 Jahre lang, bis Sommer 2016, in Langenargen am Bodensee. Lebt als Dichter in Konstanz. Absichtlich deckt den Ausgang des Tages zu, Umnachtet das Zukünftige uns der Gott Und lacht, wenn sterblich eins zu sehr be- Sorgt, was geschehen wird. (Horaz, in der Übersetzung Friedrich Hölderlins)