Aus gesellschaftskritischer Sicht gilt der Begriff ›die Mitte‹ als Bezeichnung eines spießbürgerlich langweiligen Lebens, welches sich für Behaglichkeit und Pflege des Besitzes entschieden. Das Verständnis von ›Mitte‹ wird insofern auf seine geometrische Beschreibung reduziert. Man richte sich ein zwischen zwei Extremen. Ich deute den Begriff vom tragischen Denken her: Daß wir, Mächten und Kräften, unterirdischen Strömen ausgesetzt, unsere Wege nicht eigenständig gestalten können; wir gehören fremden Wetterlagen, die unsere Gefühle beeinflussen, die uns hin- und herwerfen. Das lebensgestaltende Subjekt ist die große Illusion einer von Therapie und ›Couching‹ geprägten, verlogenen Zivilisation. Wir wohnen im Gebet eher als in der Statistik. So gesehen muß die Aussage, ich suche die Mitte, als Hingabe verstanden werden; als Hintreiben auf einem Rettungsboot; als ein Öffnen und Hinhalten der Hände im Sinne einer Bitte – des tagnächtlichen Flehens um Behütetsein. Wer die Mitte sucht, lehnt sich auf gegen die Irrmeinung, wir könnten uns selber erlösen. Wer die Mitte sucht, betrachtet die Rose. »la rebelión consiste en mirar una rosa / hasta pulverizarse los ojos // Der Aufruhr besteht darin, die Rose anzuschauen / bis die Augen zu Staub werden.« (Alejandra Pizarnik) Solange wir leben, werden wir die Rose nicht aus den Augen verlieren! ––– Von dem es heißt, er sei »das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende« (Offb.22,13) – ER, der Lebendige, das Boot, die Jakobsleiter, das Unsagbare, Verborgene (ejn sof), zugleich auch der schlechthinnige Aufklärer, der mir Allernächste, ER ist die Mitte. »And we thank Thee that darkness reminds us of light. / O Light Invisible, we give Thee thanks for Thy great glory!« (T.S.Eliot)