In der Nachbarschaft erklingt das Lied einer betrunkenen Frau. Musikalisch begutachtet, bleibt nur ein Kopfschütteln. Ihre Klage wird monoton vorgetragen – in Ansätzen hat ihr Weinen etwas vom schwanken Kahn Hölderlins (cf. Menmosyne, v.17). Ein Lalala nach Mitternacht. Gleichwohl: Ich kann nicht verhehlen, daß durch ihren Singsang der Faden einer melancholischen Schönheit sich zieht – ein Überall und Nirgendwo von Trauer; ein Seit-Jeher und Für-Immer; Archaisches, Antikes; stickige Küchen der Mittelalter; ein künftiges Jahrhundert spärlich besiedelter Wälder nach dem Tod all unserer Städte. In der Stimme der betrunkenen Frau webt eine Brise Hiob; in ihrem irrenden Suchen nach einer Melodie verbirgt sich Sapphos Schau einer kosmischen, unzerstörbaren Harmonie; klingt an, hinter allem Jämmerlichen wie Trunkenen, die ewige Poesie eines Staunens, einer bittersüßen Ignoranz: »We learned the Whole of Love – / The Alphabet – the Words – / A chapter – then the mighty Book – / Then – Revelation closed – // But in each Others’s eyes / An Ignorance beheld // Wir lernten das Umfassende der Liebe – / Das Alphabet – die Worte / Kapitelweis das große Buch / Abschließend die Offenbarung – // Im Augen eines jeden / Blieb Unwissenheit zurück …« (Emily Dickinson) Ohne zu verstehen, verfügen wir doch über eine Vision von Liebe in allem. Geliebte Kinder, schlendern wir über Märkte, durch Schattenschluchten … »Und habe nie hinausgeschaut über’n den Tellerrand des Dorfs / Das Ich eine über die Schulter mir zugesprochene Libelle /Ausflugsdampfer eines Sterbens, einer Liebe möwenumschwärmt« (aus dem baltischen Gedankenbuch)

Autor: fentzloff

Ulrich Fentzloff, 1953 in Ludwigsburg geboren und aufgewachsen. Kind poetisch verklärter Tage in einem Württemberg des Geistes. Studium der Evang. Theologie und der Philosophie an der Universität Tübingen. Vikar in Leonberg-Silberberg. Pfarrverweser in Unterlenningen, am Fuße der Schwäbischen Alb. Gemeindepfarrer in Kirchberg/ Jagst (Hohenlohe), an der Johanneskirche in Stuttgart, und schließlich, 25 Jahre lang, bis Sommer 2016, in Langenargen am Bodensee. Lebt als Dichter in Konstanz. Absichtlich deckt den Ausgang des Tages zu, Umnachtet das Zukünftige uns der Gott Und lacht, wenn sterblich eins zu sehr be- Sorgt, was geschehen wird. (Horaz, in der Übersetzung Friedrich Hölderlins)