In der Nachbarschaft erklingt das Lied einer betrunkenen Frau. Musikalisch begutachtet, bleibt nur ein Kopfschütteln. Ihre Klage wird monoton vorgetragen – in Ansätzen hat ihr Weinen etwas vom schwanken Kahn Hölderlins (cf. Menmosyne, v.17). Ein Lalala nach Mitternacht. Gleichwohl: Ich kann nicht verhehlen, daß durch ihren Singsang der Faden einer melancholischen Schönheit sich zieht – ein Überall und Nirgendwo von Trauer; ein Seit-Jeher und Für-Immer; Archaisches, Antikes; stickige Küchen der Mittelalter; ein künftiges Jahrhundert spärlich besiedelter Wälder nach dem Tod all unserer Städte. In der Stimme der betrunkenen Frau webt eine Brise Hiob; in ihrem irrenden Suchen nach einer Melodie verbirgt sich Sapphos Schau einer kosmischen, unzerstörbaren Harmonie; klingt an, hinter allem Jämmerlichen wie Trunkenen, die ewige Poesie eines Staunens, einer bittersüßen Ignoranz: »We learned the Whole of Love – / The Alphabet – the Words – / A chapter – then the mighty Book – / Then – Revelation closed – // But in each Others’s eyes / An Ignorance beheld // Wir lernten das Umfassende der Liebe – / Das Alphabet – die Worte / Kapitelweis das große Buch / Abschließend die Offenbarung – // Im Augen eines jeden / Blieb Unwissenheit zurück …« (Emily Dickinson) Ohne zu verstehen, verfügen wir doch über eine Vision von Liebe in allem. Geliebte Kinder, schlendern wir über Märkte, durch Schattenschluchten … »Und habe nie hinausgeschaut über’n den Tellerrand des Dorfs / Das Ich eine über die Schulter mir zugesprochene Libelle /Ausflugsdampfer eines Sterbens, einer Liebe möwenumschwärmt« (aus dem baltischen Gedankenbuch)