Ich begegnete ihr vor Jahren auf einer Geburtstagsfeier. Sie hatte es als Künstlerin zu einiger Berühmtheit gebracht; ihr Werk wurde in großen europäischen Städten ausgestellt; sie wurde interviewt, ihre Gedanken wurden zitiert. Sie bewohnte eine alte Fabrikantenvilla in Bologna, war ein gern gesehener Gast auf den Parties jener, die von sich meinten, die Hautevolee zu repräsentieren. Nach einem Verkehrsunfall war sie Monate lang gelähmt. Wiedergenesen zog sie sich in ein Alpendorf zurück, wandte sich ab von jeder Öffentlichkeit, führte ein einsames Dasein in den Bergen. Ich fragte sie, was sie bewogen habe, diesen Schritt zu tun, in die Einsamkeit sich zurückzuziehen. Ihre Antwort: »Was mich bewogen hat, hier oben über den Städten und Meeren Wohnung zu nehmen, stellt sich, meinem Verständnis gemäß, dar als Akt der Sühne. Seit dem Tag, da ich die Schaffenskraft wiedererlangt, weiß ich mich folgenden Gewißheiten hinsichtlich meiner Malerei verpflichtet: Kunstschaffen reimt sich ausschließlich auf Einsamkeit. Auch wenn es allen heute gültigen Regeln, Verhaltensweisen, Gewohnheiten widerspricht: Ich beharre darauf. Aus einem zurückgezogenen Leben allein kann entstehen, was über die Ränder der Epoche hinauszuschauen trachtet. Denken ist das Zentrum des Schaffens. Denken gehört dem Alleinesein. Ich mißtraue, was Kunst anbelangt, den Zusammenkünften, Veranstaltungen, Vernissagen. Die großen Metaphern der Existenz entstammen, so meine Überzeugung, einem Herumspazieren und Grübeln und unablässigen Hin- und Herwenden der Dinge, der Anstrengung, nach geistiger Ordnung in allem zu fahnden. So entsteht mein oberitalienisches Alpenschaffen unablässig im Sog eines Nachdenkens.« Wir spazierten, leicht vornübergebeugt wie Talmudgelehrte, durch den Garten der Familie, die zur Geburtstagsfeier geladen. Die Künstlerin fuhr fort: »Ein erster, flüchtiger Blick auf mein bisheriges, früheres, in den Ateliers der Städte entstandenes Werk läßt im Betrachter unverzüglich die Erkenntnis wach werden, daß Striche und Linien und Flächen der Farbe einer fiebrig geführten Hand, dem Gespräch, der Aktion, Freunden, die Tag und Nacht um einen herumstehen, sich verdanken. Es sind durch und durch im fiebrigen Rausch, in gesellschaftlicher Atmosphäre entworfene Arbeiten; sie gehören einem Spielerischen, Leichten, einem Zerstreutsein. Kunstschaffen war mir eher ein Lebensstil, der Hinweis für andere: Seht nur, ich bin eine Künstlerin, ich gehöre zur Bohème, in nichts berühre ich Gewohnheiten des Bürgerlichen. Es war alles nur Spiel, die Sucht, zu gefallen, Ausdruck eies Schreis, ein Kritzeln sozusagen in Hefte, ein wildes, eiferndes, atemloses Skizzieren. Bei allem, was ich hervorgebracht, handelt es sich um Sudel-Hefte. Als Malerin und Zeichnerin habe ich nie etwas anderes getan, als Hefte gedankenlos vollzusudeln. Ich habe zu leidenschaftlich gearbeitet. Ich habe gewütet und zornig unreife Früchte gegen die Wände und Mauern geschmettert, ich habe zertrümmert, zerrissen, niedergerungen. Die Temperatur meines Schaffens war viel zu hoch gewesen. Fiebriges spricht aus den Protokollen und Skizzen, den sprunghaft-flüchtigen Notaten früherer Tage.« Das Geburtstagskind rief an den Tisch; zum Abendessen wurde geladen. Später, sich verabschiedend, den Mantel um die Schultern legend, faßte sie mir gegenüber ihre neue Sicht der Dinge zusammen mit den Worten: »Im Krankenhaus, eingemauert in meine Krankheit, ins bleibende Trauma, der Folge eines Autounfalls, habe ich mich bekehrt. Nunmehr herrschen in meinem Werk konstant 37 Grad. 37 Grad, das ist durchschnittlich fieberfreie Körpertemperatur. Eine handwerklich-nüchtern gestimmte Hand führt Protokoll im malariaverseuchten Terrain eines Europas ständiger Revolutionen. Dahingehend spreche ich von Umkehr: Strich und Schraffur wie Pinselführung bleiben einer Handwerklichkeit, der Werkstattemperatur von 37 Grad, äußerst streng verpflichtet. Ich klage nicht mehr an. Ich streife mit den Familien an den Marktständen vorüber; ich backe Brot und lege meine kunstschaffende Hand den Sterbenden dieser Erde bescheiden, äußerst behutsam auf die Stirn. Ich tauche das von Künstlerhand Geschaffene in ihr Grab. Ich pfeife Nietzsches kleines Lied: »Alles was wir können ist ein bißchen singen und ein bißchen seufzen.« Monate später traf ich sie zufällig auf dem Bahnsteig eines dänischen Küstenstädtchens. Sie sei in den Norden gezogen; habe sich überhaupt abgewandt von der Kunst. Sie arbeite in der Werkstatt einer Schneiderin. Ich versuchte zu verstehen, was die Seevögel, um unsere Köpfe flatternd, sich gegenseitig zuriefen. »Um die Füße eines Engels, der reglos steht / im Zentrum einer Metropole, spielen, / ewig anmutend, die Rhythmen alle des Seins, / dunkle Wogen von Schönheit und Tod. // Man hört, wie im Nebenzimmer jemand / eine Flasche Wein entkorkt. / In einer andern Wohnung schreit das Neugeborene. / Güterzüge rangieren in der Ferne. // Ihr Glühbirnen flackert zum Akkordeonspiel. / Vor dem Kino um die Ecke, in welchem vor sich hin der Film / in Schwarz-Weiß träumt, stürzt ein Fahrrad um. / Der Zeitungsbote singt die Arie des Morgensterns. // Ich habe große Filme gesehn« (Geschichte macht keinen Lärm)

Autor: fentzloff

Ulrich Fentzloff, 1953 in Ludwigsburg geboren und aufgewachsen. Kind poetisch verklärter Tage in einem Württemberg des Geistes. Studium der Evang. Theologie und der Philosophie an der Universität Tübingen. Vikar in Leonberg-Silberberg. Pfarrverweser in Unterlenningen, am Fuße der Schwäbischen Alb. Gemeindepfarrer in Kirchberg/ Jagst (Hohenlohe), an der Johanneskirche in Stuttgart, und schließlich, 25 Jahre lang, bis Sommer 2016, in Langenargen am Bodensee. Lebt als Dichter in Konstanz. Absichtlich deckt den Ausgang des Tages zu, Umnachtet das Zukünftige uns der Gott Und lacht, wenn sterblich eins zu sehr be- Sorgt, was geschehen wird. (Horaz, in der Übersetzung Friedrich Hölderlins)