Im Seecafé Porto Sophie lese ich Hölderlingedichte, die mich seit jeher begleiten. Ich bin vertieft in die Feldauswahl von 1943, erschienen im Cotta-Verlag; eine von Friedrich Beißner im Auftrag der Hölderlin-Gesellschaft besorgte Ausgabe. Vom ersten Buchstaben an spürt man, daß diese Gedichte keinesfalls ins Raster der NS-Propaganda sich einfügen ließen; denkt indes zeitgleich an die Zahl von Soldaten, die, der Kriegshölle ausgeliefert, in diesem Bändchen gelesen haben. Für manche ein letzter Wohlklang vor dem Sterben. Im Äußersten bleibt die Erinnerung an einen Psalmvers, an ein Gedicht, an einige Bogenstriche abendländischer Musik. Wir werden in jeweilige Epochen, Sprachen, Landstriche gesandt und bleiben heimatlos. Ich halte im Jahr 2024 die Feldauswahl in Händen; Konstanz überflutet vom Karneval, von unsäglichem Lärm. Das kann mich nicht aus der Fassung bringen. »… Einmal / Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.« (Hölderlin, aus: An die Parzen)

Nachdem königliche Lichter am Straßenrand in die Knie gesunken, besuchte uns ein Frösteln; eisiger Wind trat in den Saal. Ich mußte, Wettern ausgesetzt und menschlicher Bosheit, angesichts einer ins Unermeßliche sich steigernden Grausamkeit allüberall, an die jüdische Cembalistin Zuzanna Růžičková denken. Die Musik JSBachs half ihr, vier Konzentrationslager der Nationalsozialisten (Terezin, Auschwitz, Hamburg-Neuengamme, Bergen-Belsen) zu überstehen; gab ihr die Kraft, Gängeleien und Drohungen seitens tschechischer Kommunisten zu ertragen. Die Musik Bachs unterstützte sie, über alles, womit auch immer ihre Existenz bedroht wurde, hinauszuschauen. Die Bach’sche Tonkunst war ihre Rettung, ihr geistiger, innerer Widerstandsgrund. »Bach hat mir gezeigt, daß es etwas gibt, das uns transzendiert. Da ist man sich plötzlich sicher: Gut, Menschlein, du bist völlig am Boden zerstört. Aber es gibt etwas, das über dir ist, eine Ordnung.«

Ich habe den Puppenspieler bewundert. Er lebte mit seiner Frau und einem seelisch kranken Sohn einsam in den Bergen. Zu den Aufführungen in den Städten kam er in die Niederungen der Zivilisation, um so bald als möglich wieder hinaufzuwandern in die Alpeneinsamkeit. Seine großartige Vision bestand darin, Poesie nicht als ein Niedergeschriebenes zu betrachten; vielmehr als Lebensform. Er lebte Poesie. Er war Grashalm und Gewitterfront, er kniete in seinem Tempel, einem Schafstall hoch droben, er schrieb wie Jesus mit dem Finger auf die Erde, er las täglich in den Essais von Montaigne. Jeder Schritt war ein Vers. Sein Lachen war weiß wie eine Birke. Zu seiner Beerdigung kamen sie aus den umliegenden Bergdörfern; Städter auch viele mühten sich hinauf. Er war eine Legende. Viele weinten an seinem Grab. Vom Friedhof aus konnte man weit sehen. Der Tod war nicht das Ende, vielmehr der Logos, das allgründende Wort. Auf dem Grabstein des Puppenspielers kann man ein Hölderlinwort aus den allerspätesten Turmgedichten bestaunen: »So sinkt das Jahr mit einer Stille nieder.«

Der Puppenspieler zitierte aus der späten Dichtung Paul Celans. Er sagte, Celan sei schwer zu verstehen, könne möglicherweise überhaupt nicht verstanden werden. Einzelne Verse, Splitter, sprächen zu uns. Das Gedicht als Ganzes bleibe dunkel. »Diese wunderbare Dunkelheit; in ihr erkenne ich«, so der Puppenspieler, »schlechthinnige Dichtkunst. Einzig die dunkle Dichtung der Moderne vermag auszusprechen, was wir Leben nennen, und was, recht besehen, von niemandem verstanden werden kann. Der Ruf einer solchen Dichtkunst ist kein Todesschrei, kein Rabenkrächzen des Hinscheidens und Verendens. Es ist der Ruf des Türmers. Es ist der Ruf, der durch alle Epochen der Menschheitsgeschichte wie ein Bettler streunt, wie eine wildernde Katze. Wir wohnen in diesem Ruf; in diesem Ruf sind wir zu Hause.«

Man kann sich müde lesen an Kommentaren, die das Weltgeschehen dieser Tage zu beurteilen vorgeben. Soll ich mich verbeugen vor Persephone, vor ihrem Totenreich? Soll ich das Fahrrad gegen die Mauer lehnen und zu Fuß weitergehen am Weinberg entlang? Niemand weiß, was geschehen wird; niemand weiß, was geschah; niemand weiß, was geschieht.

Die Harfe / Poesie als Lebenshaltung. Klang und Gesang, Harfe, Melodie einer anderen, höheren Welt sind in meinem Haus, der Allstadtwohnung, allgegenwärtig; keine Kammer, in welcher sie nicht zu hören wären. Ein Durchdrungenwerden aller Dinge vom Gesang. Seelengesang. Seit Urbeginn der Welt herrscht Gesang; Gesang, der sich ausbreitet, ›regnet‹ über die ganze Schöpfung hin, die Seelen der Menschen erleuchtend und erfüllend, diese von Jahr zu Jahr inniger ergreifend.

Aus gesellschaftskritischer Sicht gilt der Begriff ›die Mitte‹ als Bezeichnung eines spießbürgerlich langweiligen Lebens, welches sich für Behaglichkeit und Pflege des Besitzes entschieden. Das Verständnis von ›Mitte‹ wird insofern auf seine geometrische Beschreibung reduziert. Man richte sich ein zwischen zwei Extremen. Ich deute den Begriff vom tragischen Denken her: Daß wir, Mächten und Kräften, unterirdischen Strömen ausgesetzt, unsere Wege nicht eigenständig gestalten können; wir gehören fremden Wetterlagen, die unsere Gefühle beeinflussen, die uns hin- und herwerfen. Das lebensgestaltende Subjekt ist die große Illusion einer von Therapie und ›Couching‹ geprägten, verlogenen Zivilisation. Wir wohnen im Gebet eher als in der Statistik. So gesehen muß die Aussage, ich suche die Mitte, als Hingabe verstanden werden; als Hintreiben auf einem Rettungsboot; als ein Öffnen und Hinhalten der Hände im Sinne einer Bitte – des tagnächtlichen Flehens um Behütetsein. Wer die Mitte sucht, lehnt sich auf gegen die Irrmeinung, wir könnten uns selber erlösen. Wer die Mitte sucht, betrachtet die Rose. »la rebelión consiste en mirar una rosa / hasta pulverizarse los ojos // Der Aufruhr besteht darin, die Rose anzuschauen / bis die Augen zu Staub werden.« (Alejandra Pizarnik) Solange wir leben, werden wir die Rose nicht aus den Augen verlieren! ––– Von dem es heißt, er sei »das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende« (Offb.22,13) – ER, der Lebendige, das Boot, die Jakobsleiter, das Unsagbare, Verborgene (ejn sof), zugleich auch der schlechthinnige Aufklärer, der mir Allernächste, ER ist die Mitte. »And we thank Thee that darkness reminds us of light. / O Light Invisible, we give Thee thanks for Thy great glory!« (T.S.Eliot)

Wer wollte bestreiten, daß wir Ursprüngliches weitestgehend verloren. »Die Nachtigallen und die Olivenbäume / weggefegt von den Hochhäusern, / die Menschen verloren vor den Maschinen.« (Giorgos Seferis) Nicht, daß wir einer untergegangenen Welt nachzuwinken, ihr nachzutrauern gesonnen wären. Es liegt uns fern, die Jetztzeit zu verunglimpfen. »Ach, warum denn übers Dasein derer sich erheben, / die am Ufer entlang weinen, vor sich leise hinleben, / nicht nachdenken und Seelachs kaufen, Wodka, / Obst; die ihre Kinder taufen lassen. / Niemand tanzt, der nur ein Leben hat. / Wozu die Sudelhefte, die allen Schwalben fremd?« (aus Anarchia Einkaufsmärkte Blutarmut). Die Frage nach dem Ursprung ist kein Urteil über irgendeine Zeit. Die Frage nach dem Ursprung erweist sich als Suche nach dem Antlitz – will heißen: daß in allem Hervorgebrachten, in den Tag Getretenen sich angedeutet fänden Worte, Züge des menschlichen Antlitzes. »Aqui, junto al mar latino / digo la verdad: / siento en roca, aceite y vino / yo mi antigüedad. / Hier am abendländischen Meer / bekenne ich die Wahrheit: / im Fels, im Ölbaum und im Wein / fühle ich meinen Ursprung ältester Zeit.« (Rubén Dario) Weder Stein, noch Ölbaum, noch Wein sind stumm. In allem anklingt substanziell ein Gesprochenes. Sprache zeichnet das Christusantlitz ins Erscheinen. Die Poesie habe, so wird gemunkelt, die Dörfer verlassen. »Armes Zimmer, wurdest du jemals bewohnt? Wie ist es hier kalt, wie wenig bewohne ich dich.« (Maurice Blanchot) Nein, die Poesie wird diese Welt niemals verlassen.

Trümmer von Sternen: / aus diesen Trümmern bilde ich meine Welt (Friedrich Nietzsche, KSA 13, p.570). Es gilt, sich dessen bewußt zu sein, daß wir auf keine Vorstellung von Einheit zurückzugreifen vermögen. Wir sammeln Steine, schichten diese übereinander, die Steinmännchen und Türme stehen an den Ufern der Meere beliebig nebeneinander. Eine Kirchenorgel neben wissenschaftlichen Erkenntnissen der unterschiedlichsten Art, eine Berghütte, eine Motorenfabrik, ein Rasierpinsel – jedes Steinmännchen, vielschichtig, selbstbezogen, behauptet seinen Platz; wir reimen uns eine kleine Alltagsphilosophie zusammen. Erkenntnissplitter. Einheiten wie Urwald, Meer, Stadt, Liebe, Tod, Erde haben wir aus den Augen verloren. Wir hausen in unseren Höhlen, zerfaserter Begriffe auf Rezeptzetteln uns zu bedienen. Milliarden Photos, Zahlenpyramiden; Takte – aber keine Melodie. Heute sind wir Trinker, blinde Erinnerungen an Marilyn Monroe. Morgen knien wir vor einem Altar. Nächste Woche lösen wir ein Kreuzworträtsel. Du bist ein Augenblick in Gott, Abgrund und Grat. Niemand mehr, der um deinen Namen wüßte.

Apokalyptisch eisigblaue Vögel ziehen Nebelwände als Kulissen auf die Weltenbühne, wo zu dieser Stunde ein Turner seine Übungen noch abschließt und ein Handwerker einen riesigen Kleiderbügel an einer Leiter befestigt (ich frage mich, wessen Totenhemd darüber gehängt werden soll?). Ich sitze seit Stunden in der Straßenbahn, quere die Stadt von West nach Ost, von Ost nach West; will das Gefährt gar nicht mehr verlassen – als ob ich im monotonen Unterwegssein eine Art Zuhause gefunden. Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Äuglein zu. Ich erinnere einen Spaziergang im Lyon der Achtzigerjahre, als mich augenblicklich der Einfall beglückte, ich sei der Faden einer wunderbar gewobenen Zeltwand, die man auf die zerrissene Gegenwart eines Stadtrands gelegt. Man hatte beabsichtigt, wähnte ich, zu verhindern, daß der Frost den kranken Häusern einen unheilbaren Schaden zufügen könnte; daß also eine heilende Kraft von Schönheit in meinem Leben wöbe. In den Augenwinkeln einer Stadt friert das Fragment der Ulme; ich indes Jesu unzerstörbare Gegenwart empfinde. Die Schlaflosbarke färbt den See in ein Grau der Wandtafel.