Trümmer von Sternen: / aus diesen Trümmern bilde ich meine Welt (Friedrich Nietzsche, KSA 13, p.570). Es gilt, sich dessen bewußt zu sein, daß wir auf keine Vorstellung von Einheit zurückzugreifen vermögen. Wir sammeln Steine, schichten diese übereinander, die Steinmännchen und Türme stehen an den Ufern der Meere beliebig nebeneinander. Eine Kirchenorgel neben wissenschaftlichen Erkenntnissen der unterschiedlichsten Art, eine Berghütte, eine Motorenfabrik, ein Rasierpinsel – jedes Steinmännchen, vielschichtig, selbstbezogen, behauptet seinen Platz; wir reimen uns eine kleine Alltagsphilosophie zusammen. Erkenntnissplitter. Einheiten wie Urwald, Meer, Stadt, Liebe, Tod, Erde haben wir aus den Augen verloren. Wir hausen in unseren Höhlen, zerfaserter Begriffe auf Rezeptzetteln uns zu bedienen. Milliarden Photos, Zahlenpyramiden; Takte – aber keine Melodie. Heute sind wir Trinker, blinde Erinnerungen an Marilyn Monroe. Morgen knien wir vor einem Altar. Nächste Woche lösen wir ein Kreuzworträtsel. Du bist ein Augenblick in Gott, Abgrund und Grat. Niemand mehr, der um deinen Namen wüßte.

Apokalyptisch eisigblaue Vögel ziehen Nebelwände als Kulissen auf die Weltenbühne, wo zu dieser Stunde ein Turner seine Übungen noch abschließt und ein Handwerker einen riesigen Kleiderbügel an einer Leiter befestigt (ich frage mich, wessen Totenhemd darüber gehängt werden soll?). Ich sitze seit Stunden in der Straßenbahn, quere die Stadt von West nach Ost, von Ost nach West; will das Gefährt gar nicht mehr verlassen – als ob ich im monotonen Unterwegssein eine Art Zuhause gefunden. Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Äuglein zu. Ich erinnere einen Spaziergang im Lyon der Achtzigerjahre, als mich augenblicklich der Einfall beglückte, ich sei der Faden einer wunderbar gewobenen Zeltwand, die man auf die zerrissene Gegenwart eines Stadtrands gelegt. Man hatte beabsichtigt, wähnte ich, zu verhindern, daß der Frost den kranken Häusern einen unheilbaren Schaden zufügen könnte; daß also eine heilende Kraft von Schönheit in meinem Leben wöbe. In den Augenwinkeln einer Stadt friert das Fragment der Ulme; ich indes Jesu unzerstörbare Gegenwart empfinde. Die Schlaflosbarke färbt den See in ein Grau der Wandtafel.

»Wild und dichterisch setze ich die Zehenspitzen auf die Atemzweige des Tages.« (Tagebuch eines Landpfarrers, 8. Juli 2019) Darf ich meine Tage betreten wie eine Kirche des späten Mittelalters? Ehrfürchtig gestimmt einzutreten – ein so Hohes!

Sie streifen durch den Wochenmarkt – ein junges Paar; beide tragen Kopfhörer; wiegen, einem heftigen Rhythmus wohl gehorchend, die Köpfe. Wollen sie denn nicht erlauschen die Geräusche eines Markts, die Stimmen der Vorübergehenden, der Sterblichen, vor Ständen Anstehenden? Bedeutet er ihnen nichts, der archaische Gesang? Ergriffen zu werden von den Kanones der Händler! Die Tenorarie eines Bäckermeisters! Das ungehörte Klagelied eines Singvogels, der um die Kastanie kreist, die wiederum ins Gebet versunken. Das Marktgeschehen als Ganzes – das Pärchen geht unbeteiligt seiner Wege. Die Atemzüge eines Januartags. In hundert Jahren noch werden Menschen Märkte besuchen, sich verzaubern zu lassen von den Frachten, die Noahs Arche zweimal die Woche herbeizutragen sich müht. Der Markt ist eine heilige Fußspur im irdischen Staub.

Ihr ahnt die linien unsrer hellen welten –Stefan George zeichnet ein ums andere Mal feinlinig eine unzerstörbare Schönheit ins Weltendüster: Die bunten halden mit den rebenkronen / Den zefir der durch grade pappeln flüstert. George beheimatet die menschliche Seele nachgerade im Licht: Doch unser aller heimat bleibt das licht. Ich spaziere am Seeufer entlang unter den Platanen. Der Richtung Friedrichshafen aufbrechende Katamaran löst sich auf im Nebel. Ich empfinde körperlich geradezu jenes metaphysische Dunkel, welches auf Städten und Dörfern, auf den Stirnen liegt der Sterblichen. Ich habe Streichhölzer zu Hause vergessen, bitte den Graureiher um Feuer. Der findet lediglich eine leere Zündholzschachtel in seiner Umhängtasche. »Ich kann Dir leider nicht weiterhelfen.« Er ist alt und traurig. Er verabschiedet sich und fliegt seinem späten Tod auf dem offenen See entgegen. Ich höre ihn singen. Sein Lied ist mir von der Kinderkirche her noch bestens vertraut. Mein Gedächtnis summt die Melodie zuweilen. Nun ruhen alle Wälder … Ach, unvergessen die Strophe, die meine Mutter mit uns Kindern abends oft gesungen: Breit aus die Flügel beide, / o Jesu, meine Freude, / und nimm dein Küchlein ein. / Will Satan mich verschlingen, / so laß die Englein singen: / Dies Kind soll unverletzet sein. Ob das Leben nur Lektüre, Spätschicht, Grabgesang zuweilen? »Des Abends fand ich in der Leere eines Gartens / Die Andeutung von Schlaf. In Einkaufstüten gut verstaut / Die Qual des Wachseinmüssens. Um den Kopf / Das Tuch betagter Seeräuber gebunden. // Ihr lieben Kinderlein, wer, der jemals eine Antwort fände?« (aus Texte studierend der Stoa)

Jeden Abend schaut zur Zeit der Regen vorbei; flüchtig sein Gruß. Er ist von eleganter Erscheinung in seinem grauen Philosophenmantel. Er beharrt darauf, daß Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre bedeutend sei– erinnere sie doch daran, daß unser irdisches Leben in verschiedene Bereiche zerfalle. Daß wir niemals in einer Wirklichkeit nur existierten. Ich möchte nachfragen. Er ist bereits weitergezogen, der abendliche Regen. Er schaut über die Schulter zurück und ruft mir aus der Ferne zu, alles stünde in Büchern. »Du mußt nur eine Bibliothek aufsuchen. Dort findest du Luthers Schrifttum.« Ach, die entscheidenden Schriften fänden sich auch in meiner eigenen Bibliothek. Ich habe seit jeher gedacht, Luther sei zu wenig verrückt. Nun aber die lobenden Worte des abendlichen Regens. Ich vermute, der Regen wollte mich darauf aufmerksam machen, daß wir mit unserem Alltagsgepäck, unserem Herumstehen in Bahnhofshallen, unserem Warten in Arztpraxen, unserem Kochen und Staubsaugen, unserer Abhängigkeit von der digitalen Autorität, viel zu langweilig seien, um diesen geistigen Wandermönch des späten Mittelalters verstehen zu können. Luther habe, meinte der Regen andeuten zu müssen, ganz wie Hiob, wie Sophokles und Euripides die Moderne prophetisch vorausgesehen. Der Regen kehrte nochmal um, trat ans Stadttor und erzählte es allen Schlafwandlern: Luther habe wie kein anderer jene Geworfenheit, welche den Heutigen so sehr zu schaffen mache, die Ohnmacht des einzelnen, in großen Bildern, in Worten seiltänzerischer Poesie (zu hoch für unsre kleinen Ohren) ausgesagt. Der Regen rastete am Straßenrand. Er aß Brot und Nüsse. Er sah schön aus in seinem Mantel. » … Milder Regen / Von der Farbe eines dunkelblauen Mantels, wie viele ihn, / Während all der Winter, über Jahreszeiten hin, getragen. // Kleiner Regen von der Farbe jener Tinte, mit welcher man / Die Trauer auf das Papier der Friedhöfe geschrieben; / Von der Farbe eines Waldrands zur wunderbaren, / Armen Stunde, da der Vogelschrei geboren wird… // Kleiner dunkelblauer, schlachtfeldgrauer Regen, / Gottesdienstlich, auch altschön.« (aus Kleiner Regen heimatlos)

Ich sitze, eine Toscanello rauchend zum Espresso, an einem Tischchen vor dem Café. Ich beobachte einen Bettler, der auf der gegenüberliegednen Straßenseite eine Bank belegt hat mit seinen Plastiktüten, seinem Rucksack; der Vorübergehenden den Hut entgegenhält, von Zeit zu Zeit ein Notizbuch zur Hand nimmt, eifrig darin zu schreiben. Ungeachtet des winterlichen Wetters trägt er kurze Hosen; Bergstiefel dazu, mehrere Schals, den Anorak über vermutlich mehreren Pullovern. Eine verwahrloste Erscheinung, die zuweilen lautstark unverständliche Worte hinausschreit in die Welt. Meine Gefühle schwanken zwischen Mitleid und Verachtung; Gefühle eines anständig gekleideten Bürgers. Gefühle, die eine große Distanz zwischen uns beiden voraussetzen. Dann unvermittelt der Gedanke, daß ich mich von diesem Bettelmann unwesentlich unterscheide. Daß auch in mir ein Betteln, ein Rufen, ein Aufschauen, eine Not. Wir sind Bettler. Das ist wahr – Worte, die Martin Luther vermutlich am Vorabend seines Todes niedergeschrieben. Zwei Bettler, die einander gegenüberübersitzen. Wir beide sind ein Augenblick in Gott. Wer tritt, wenn die Lilie ruft, im Tuch der Hirtenmäntel, segnend an das Grab, beugt sich übers Lager all der Siechen, bringt den bunten Stein, das hohe Wort, den Honigseim? Ich will Christus denken, will ihm danken, will ihm dienen. Wir sind Bettler. Das ist wahr.

Ich gehe im Traum durch eine Stadt, die weit wie das biblische Ninive. Es brauchte drei Tage, um Ninive zu durchschreiten. Mir wird klar, wie schnell die Welt geworden. Mit der Métro quere ich Paris in eine Stunde. Es braucht Jahre indes, um in meiner Schreibstube von einem Regal zum gegenüberliegenden zu gelangen. Bankhochhäuser haben in den Metropolen die vormalige Zentralstellung der Kirchen eingenommen. Unterirdisch gründet jede Stadt auf Jesu Geistpräsenz; Gegenwärtigsein, das mich an die Aster denken läßt: »Astern, um keinen Tanzschritt je verlegen, / Astern, wortkarg wie auch immer, ein Hohes über jeder Fensterbank. / Der Astern Wort steigt mählich durch das Treppenhaus des Buchstabierens. / Ihr Astern. Euer wildes Herschenken von Glut. / Kreisen einer Gabelweihe überm Feld. / Wir werden nicht entschlafen, vielmehr sehend in eine Art Verwandlung wehn‘. / Astern, ihr winkt aus einer andern Welt herüber. Mittelalterlich, ach, euer Musizieren. / Ich ehre, Astern, euren Stil, wie ihr die Zigarette haltet, ich portraitiere / Euren Herbst.« (aus Straßenmusik. Gebet)

Die unendlich anmutende Zahl der Fotobilder, das Inflationäre von Buch- und Kunstmärkten; Kreuzfahrtschiffe; Venedigs, Barcelonas, Dubrovniks Touristenfluten – einsame Küchentische dagegen, verlassene Bergdörfer, Menschen, die über vermeintlich schwierigen Texten brüten; das Gebet in leeren Kirchen, Gnostiker, die Nacht frierender Bettler, Tonsetzer … Woraus schöpft die Menschheit Kraft? Verkörpern nicht gerade diese Einsamen, Verzweifelten, das Licht?

Das stille Gebet – es hat seinen festen Ort im evangelisch-württembergischen Gottesdienst. Wie sehr ich es liebe! Zu Zeiten, da so viele redend (telephonierend) durch die Straßen ziehn, gibt sich die Stille als Frau, die vor einem Spiegel steht; im Spiegel nicht sich selbst, vielmehr das Taubengrau einer uralten Haustür betrachtet: ein Sich-Öffnen auf’s Christusantlitz hin. Die Stille des Mönchtums; Stille gleichermaßen des uralt schwäbischen Lebens. Stille eines Schwalbenflugs, eines Halms, eines andalusischen Feldwegs. Gott ist auf der Suche nach meiner armen, unendlich reichen Seele, die verlassen hat die Schule, die sich im Wirrwarr antiker Bibliotheken verloren. Sofern ich auf der Terrasse stehe einer Winterfrühe, vernehme ich, Kind des tragischen Jahrhunderts, Gottes Ruf. Ich weiß, daß Gott mich finden wird. Vergib uns unsre Schuld. Der Rechenstift empfängt die letzte Ölung. Das Eintauchen des Stifts in goldnen Wein. Gegenstände rufen nach einem Kult, nach einem Segen. Ach, mein Ruf nach Stille, nach dem Abendrot.