Die unendlich anmutende Zahl der Fotobilder, das Inflationäre von Buch- und Kunstmärkten; Kreuzfahrtschiffe; Venedigs, Barcelonas, Dubrovniks Touristenfluten – einsame Küchentische dagegen, verlassene Bergdörfer, Menschen, die über vermeintlich schwierigen Texten brüten; das Gebet in leeren Kirchen, Gnostiker, die Nacht frierender Bettler, Tonsetzer … Woraus schöpft die Menschheit Kraft? Verkörpern nicht gerade diese Einsamen, Verzweifelten, das Licht?

Das stille Gebet – es hat seinen festen Ort im evangelisch-württembergischen Gottesdienst. Wie sehr ich es liebe! Zu Zeiten, da so viele redend (telephonierend) durch die Straßen ziehn, gibt sich die Stille als Frau, die vor einem Spiegel steht; im Spiegel nicht sich selbst, vielmehr das Taubengrau einer uralten Haustür betrachtet: ein Sich-Öffnen auf’s Christusantlitz hin. Die Stille des Mönchtums; Stille gleichermaßen des uralt schwäbischen Lebens. Stille eines Schwalbenflugs, eines Halms, eines andalusischen Feldwegs. Gott ist auf der Suche nach meiner armen, unendlich reichen Seele, die verlassen hat die Schule, die sich im Wirrwarr antiker Bibliotheken verloren. Sofern ich auf der Terrasse stehe einer Winterfrühe, vernehme ich, Kind des tragischen Jahrhunderts, Gottes Ruf. Ich weiß, daß Gott mich finden wird. Vergib uns unsre Schuld. Der Rechenstift empfängt die letzte Ölung. Das Eintauchen des Stifts in goldnen Wein. Gegenstände rufen nach einem Kult, nach einem Segen. Ach, mein Ruf nach Stille, nach dem Abendrot.

Robert Walser liebte das einfache Leben; das Unauffällige, Zaghafte. Er pries die tragische Hingabe an das Kleine, das Müdewerden, an Winterabenden das Sitzen am wärmenden Ofen. Er ehrte ein Hiersein ohne die großtuerische Geste, wertschätzte die Poesie des Wegrands, die schlichte menschliche Güte – wie sie gleichermaßen Wassilij Grossmann in seinem Roman Leben und Schicksal gepriesen: »Das ist die echte Güte des einzelnen gegenüber einem anderen einzelnen, die kleine Güte, die keine Zeugen hat und keine Idee: man könnte sie die unbedachte Güte nennen.«

O Schwarz-Dorf-Existenz, angst- und wüstenmundumgarnt, bar jeder Anmut, weit von Seine und Marne entfernt, vom Landhaus eines Dichters? Wir kommen nicht leer auf diese Erde. »La mia venuta era testimonianza / di un ordine che in viaggio mi scordai / Meine Ankunft war das Zeugnis einer Ordnung, die ich unterwegs vergaß« (Eugenio Montale, aus Mediterraneo). Eine innere Prägung, ein höherer Auftrag, ist, allem Offensichtlichen verborgen, eingetragen in unsere Seele. Wenige Menschen nur, die sich dessen bewußt sind, die ihre metaphysische Berufung nicht aus den Augen verlieren, die sie irgendwann entdecken und zusehends deutlicher zu entziffern, in seltenen Fällen zu leben begabt sind. Die Taufe darf verstanden werden als Hinweis auf dieses innere Geheimnis des Menschenlebens. Der Ruf findet sich allerdings nicht eingezeichnet in die Materie. Er bleibt ein Von-draußen-her. Er gilt, Robert Musil nachgesprochen, als Atemzug eines Sommertags – vernehmbar streicht er über die Haut, über die Lippen. »Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt.« (Joh.3,9) Die Melodie kann gehört, indes als Partitur nicht festgehalten werden. Wir geben uns der Zerstreuung hin, verlieren uns im Alltäglichen. Wenige, die berufen sind. Die heilige Minorität der Dichter.

Ein Mensch sitzt irgendwo; er schlägt ein Buch auf – wieviel Ernst und Schönheit sprechen aus dieser Geste, die erinnert an das Falten der Hände. Der Lesesaal einer Bibliothek gleicht dem Inneren einer Kirche. Lesen und Beten. An Gott zu glauben, heißt, stetig hinzuwandern. Die Liturgie gehört zum Tempel. Das Gebet ist synagogal. Der eine Tempel, die tausend Synagogen. Der eine Altar. Andächtiges, flehendes, rufendes Altarumkreisen des Wanderers. Sein Nachdenken, sein Knien; sein ›Ach‹, das sich auf die Lippen legt. Alles deutet hin auf das staunende Ergriffensein des Lesers. Auch das Lesen gehört der Synagoge; im Tempel das eine Buch – die Predigtzettel der Synagogen, die Vielzahl der Texte, die Wälder, das Unterholz, die Buchstabenmeere. Der Leser sucht und ruft, ermüdet, verliert sich in Träumen (sodann aufzuschrecken). Um den Liturgen her die Wärme, der Kerzenschein des Altars. Der Beter friert. Der Leser friert. Im Lesen wohnt der Hunger. »Ohne Buch kann niemand leben – / Ein alter Wind und Amseln fressen / Dem kleinen Bratschenspiel vom Sterben / Unterwürfig aus der Hand. / Vergiß den Tempelwächter nie; / Lies wie er in Briefen der Antike.« ( aus Białystok-Ghetto. Wort und Wintergruß des Tempelwächters)

Bitterschöne Kälte auf einer europäischen Terrasse. Krähengezeter zur Stunde, da in den Häusern die Lichter angehen, die Menschen frühmorgens sich vorbereiten auf einen Tag, von dem sie nicht wissen, was er bringen würde. Ich genieße Tabak und heißenTee nach stundenlanger Lektüre von Gershom Scholems Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen – Buch, das ich während meiner Studentenjahre mit entschiedener Leidenschaft gelesen. Auf Seite 384 findet sich folgende Anekdote der Chassiden: »Wenn der Baal-schem etwas Schwieriges zu erledigen hatte, irgend ein geheimes Werk zum Nutzen der Geschöpfe, so ging er an eine bestimmte Stelle im Wald, zündete ein Feuer an und sprach, in mystische Meditationen versunken ein Gebet – und alles geschah, wie er es sich vorgenommen hatte. Wenn eine Generation später der Maggid von Meseritz dasselbe zu tun hatte, ging er an jene Stelle im Wald und sagte: »Das Feuer können wir nicht mehr machen, aber die Gebete können wir sprechen« – und alles ging nach seinem Willen. Wieder eine Generation später sollte Rabbi Mosche Leib aus Sassow jene Tat vollbringen. Auch er ging in den Wald und sagte: »Wir können kein Feuer mehr anzünden, und wir kennen auch die geheimen Meditationen nicht mehr, die das Gebet beleben; aber wir kennen den Ort im Wald, wo all das hingehört, und das muß genügen.« Und es genügte. Als aber wieder eine Generation später Rabbi Israel von Rischin jene Tat zu vollbringen hatte, da setzte er sich in seinem Schloß auf seinen goldenen Stuhl und sagte: » Wir können kein Feuer machen, wir können keine Gebete sprechen, wir kennen auch den Ort nicht mehr, aber wir können die Geschichte davon erzählen.« Was vermögen wir Heutigen? Wir können kein Feuer machen, wir können keine Gebete sprechen, wir kennen auch den Ort nicht mehr, wir können die Geschichten nicht mehr erzählen. Wir sind leer. »… Nous voici parties pour un / Nouvel oubli destiné à durer des siècles / Wir, sieh da, aufgebrochen in ein / Neues Vergessen, bestimmt für die Dauer von Jahrhunderten.« (Dimitri T. Analis) Ein alter Dichter steigt aus der Straßenbahn in Wien. Um den Hals gewunden einen handgestrickten Schal. Der alte Dichter betrachtet die gegenüberliegende Kirche. Er stellt seinen Koffer ab, sucht in seiner Umhängtasche nach einer Zigarre, die er, nachdem er eine gefunden, anzündet und lange vor sich hin auf den Boden starrt. Endlich sagt er: »Wir haben alles vergessen, alles verlernt, wir können kein Feuer anfachen, kein Gebet sprechen, die Wälder sind uns fremd geworden, wir können keine Geschichten mehr erzählen. Wunderbar! Das ist wunderbar! Wir können neu anfangen. Wir betreten einen unbewohnten Kontinent des Geistes.« Der alte Dichter lehnt sich gegen das Geländer der Haltestelle; er summt ein Lied. Geneigter Leser, hörst Du, der Du umgeben bist vom Lärmen des Verkehrs, dem Geschrei und Weinen einer großen Stadt, hörst Du die Melodie?

Ich meine, es sei schwierig, stelle ein Wagnis dar, eine Zeit als Epoche eingrenzen zu wollen; weitergehend dann noch der Versuch, das solchermaßen Eingegrenzte einer Definition zu unterwerfen. Das Ergebnis sind dann vieltausend Weisheiten über einen Körper, den man Moderne, Spätmoderne, Postmoderne … ruft. Biblische Prophetie schenkt uns Bilder, die tiefer eindringen in unsere Zeit, diese treffender skizzieren. In Jer. 19 ist von einem Zerschmetterten Krug die Rede: »So spricht der HERR Zebaoth: Wie man eines Töpfers Gefäß zerbricht, daß es nicht wieder ganz werden kann, so will ich dies Volk und diese Stadt zerbrechen.« Der Gedanke, daß ein ursprünglich eher Ganzes im Vergehen der Zeit zerbräche, läßt sich auf nahezu alle Phänomene unserer Tage anwenden. Schebirath ha-Kelim (שבירת הכלים) – der Bruch der Gefäße. Das Feinsinnige, Wohlgeformte, das Schöne, der Krug. Die Krüge bekommen Risse, zerbersten. Infolgedessen uns eine Gesamtschau verwehrt ist. Wir sind gehalten, Scherben zu entziffern. Pseudo-Dionysius Areopagita, ein Denker des frühen 6. Jahrhunderts n. Chr., kann den Glaubensweg eines Menschen im Sinne einer geordneten Gesamtschau beschreiben. Der erste Schritt, so Dionysius, erfolge im Sinne einer Reinigung. Wissenschaft, Moralphilosphie und Logik hülfen dem Einzelnen, sich aus einer gedankenlosen, mitläuferischen Alltagsexistenz zu befreien. Infolge naturphilosophischer Betrachtungen, welche den Zusammenhang aller Dinge, deren letztes Vereintsein in Gott, erkenne, gelange der spirituelle Wanderer in einen Zustand der Erleuchtung, welchen er schlußendlich dadurch perfektioniere, daß er eintauche in die Theologie, das Geheimnis Gottes trinitarisch zu deuten dann begabt sei. Drei wohlgeordnete, allgemein nachvollziehbare Erkenntnisschritte: purgatio, illuminatio, perfectio. Für die Heutigen existiert ein solchermaßen schönes, ruhiges, gelassenes Hineinwachsen in die göttliche Wirklichkeit nicht mehr. Der Weg zu Gott ist zerscherbt. Ein Fallen und Stürzen, Vogelflug, Zustände von Angst und tiefstem Glück – ein Wirrwarr, ein Scherbenhaufen, ein vollgekritzeltes Heft , schwer nur entzifferbare Buchstaben, Atonales. Im weitesten Sinne darf man sagen, unser Leben sei ein zerbrochener Krug. Etwas Kostbares, das die Schönheit und Eleganz verloren – gleichwohl allen Grund hat, Tiqqun / Heilung zu erhoffen (Tikun Olam, שבירת הכלים / Reparatur der Welt). »Auch im Jahr zwanzigvierundzwanzig / Kannst du mit deinen Nachbarn nachdenken / Über die Bedeutung dessen, was wir Seele nennen // Wir wissen nicht viel mehr als Platon vor langer Zeit noch festgehalten / Vielleicht sogar entschieden weniger // Ein kleines rotes Flugzeug gleitet über einen See, / Auf dem die Fähren ihren Hafen suchen, den sie nie mehr finden sollen. / Auch ahnen wir die Nähe unserer Toten, / Die auf Wasserflächen ihren klugen Tanzschritt flüchtig kritzeln // Und wissen gar nicht viel«

O Erlöschen der Sommer, wenn die Lichter der Bergstation dann heller werden und herabsteigt ein Schneesturm der Tierstimmen. Herauffliehen Dämonen wie allerhand Graues aus Novembernebel-Kammern. Von Spiegeln gerahmt die Mandoline und das schreiende Grün der Birkenwälder im Mai. Winterulmen sind Mönche des Rieds, ihre Schatten sind das Brot, welches hungrige Sommer kauen. Vom Flieder gefeierte Heiterkeit der Stege und der Schiffe. Man kann so viel über sich selber sagen. Ich neige dazu, mich als gottesdienstlichen Menschen zu bezeichnen. Das Verehren ist mir ein Grundanliegen schlechthin, die erste Stimme meiner Seele. Nach dem Erwachen spät morgens kommen mir zuallererst Worte eines Dichters der Aufklärung, Christian Fürchtegott Gellert, in den Sinn: »Mein erst Gefühl sei Preis und Dank.« Später, an einer Bushaltestelle, vor einem Kiosk, bleibt alles Betrachten und Wahrnehmen getragen vom Empfinden, daß alles, gottdurchtränkt, zusammenstehe: »Alles ist miteinander verflochten, und die Verbindung ist etwas Heiliges, und das eine ist dem anderen kaum fremd. Denn es ist zusammengefügt und bildet gemeinsam denselben Kosmos.« (Marc Aurel, Wege zu sich selbst, Buch VII, 9) Atmen enspricht der liturgischen Geste, dem Altargesang. In denkbar poetisch gefügtem Altgriechisch, singt Kol. 1,15. ff. – was auf Deutsch so sich anhört: »In ihm, in Christus, ist alles geschaffen … es besteht alles in ihm … Es hat Gott wohlgefallen, daß in ihm alle Fülle wohnen sollte.« Ich tue keinen Schritt, welcher nicht berührt, ja durchdrungen wäre von Christusgegenwart. Wer entsprechend hingeht, der geht »orthòs, mē orthoúmenos / aufrecht, nicht aufgerichtet« (Mark Aurel, VII, 12) – will heißen: hat aus Gott heraus den Stolz, nicht einen von Menschen gemachten, womöglich verhinderten. »Die Provinz der Menschhand, allen Schaffens, steige auf – / Rauch aus Kaminen einsam gelegener Gehöfte – / In ein Kosmisches; werde indes gleichermaßen / Eingetaucht gnädiglich in die kleine Welt / Der Nagelfeile, die jemand auf des Bahnsteigs Bank vergessen.« (aus Baukunst der Erinnerung)

Die Wohnstube bleibt der Ort, wo dem Einzelnen eine zentrale Stellung zukommt; ihm am ehesten das Renaissancegefühl vermittelt wird, er stünde im Zentrum der Ereignisse: »Medium te mundi posui, ut circumspiceres inde commodius, quicquid est in mundo // In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt.« (Pico della Mirandola, De hominis dignitate). Zuhause die Räume, die dir gehören, in welchen du dich unbeobachtet umtun kannst, wie es dir beliebt; Räume, die dir das Empfinden vermitteln, jeder Schritt gehöre dir, jeder Handgriff, jedes Lied und jedes Schweigen sei dein Eigen. Zuhause die Räume wie ein Schlaf, welcher singt dein Ich. Außer Haus fällt über dich alles Fremde her der Welt. Unsere Städte (Dörfer gleichermaßen) sind längst Ort geworden, die erinnern an Heimatlosigkeit. Sie mögen schön anmuten, die Orte – »Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester;« (Mt.8,20) – du hast nichts, wo du dein Haupt hinlegen könntest. Wir gehen durch Straßen, bewundern oder mißbilligen; kein Stein, der dir antworten, der dir sagen würde, welchen Weg du einschlagen mögest. Die Stühle der Cafés sind stumm. Kirchentüren zugeschlossen, »reinlich und zu und enttäuscht wie ein Postamt am Sonntag« (Rilke, Die zehnte Elegie). Auf der Straße erfahren wir uns längst nicht mehr als im Zentrum, in einer Mitte beheimatet; auf der Straße sind wir an ein Nichts ausgelieferte Kinder. Über der Straße steht die Sonne einer Angst. Keine Regierung vermag besagtes Ausgeliefertsein wegzuzaubern. Bleibt uns der Ruf, das feine Gebet der Wegwarte.

Ich schreibe in aller Regel auf lose Blätter; mißachte dabei die Warnung Vergils. Im 6. Gesang der Äneis wendet sich der fromme Äneas betend und warnend an die cumäische Seherin Sibylle. »foliis tantum ne carmina manda, / ne turbata volent rapidis ludibria ventis // Schreib deine poetischen Verse nur nicht auf Blätter, die wild davonfliegen können, Spielball der schnellen Winde.« (Äneis Gesang VI, v. 74f.). Was sich im Zusammenhang des 6. Gesangs als Warnung ausnimmt, erscheint mir als Verheißung. Wäre es nicht herrlich, wenn die Verse, Spielball der Winde, in einer unbestimmten Ferne sich verlören? Meine Buchstaben und Verse möchten fliegen; möchten nicht zu Hause bleiben (zuweilen nicht einmal verstanden werden – sofern Verstehen ein Einsperren bedeutete im Kopf des Lesers). Die Verse meiner Feder weigern sich, einem fabula docet sich zu unterwerfen. Verse, die ungern eingetippt sein wollen in eine Maschine, welche sie aufzufressen droht. Verse, die herumzuspazieren begehren in Dörfern und Wäldern, die in Cafés sitzen und vergessen werden mögen. Poesie: der Streifen Niemandsland zwischen deutendem Verstehen und unsagbarer Nacht.