Das Maß (to métron) im Leben zu finden ist eines (und gewiß ein Einzuforderndes, ein Vornehmes); ein anderes: die Frage, ob das Denken, sofern es all die Treppenstufen des Hiersein zu betreten sich gerufen weiß, einem Maßhalten genügen darf? Ob Denken nicht einer schlechthinnigen Maßlosigkeit hinterherzueilen habe? Das Wilde, Einsame, Ungebundene, Absurde, Gewichtige wie auch Leichte – vermag die Vielgestaltigkeit des Seins, dessen Einsamkeit und Ruhe, das Dörfliche, dessen Gehetztsein, Großstädtisches, Schlafloses erfaßt zu werden von einem System, einem geordneten Zusammenschauen der Dinge (dem Falten einer Serviette entsprechend)? V.S. Naipaul hat, in den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die Frage aufgeworfen, ob es, angesichts irdischer Wirklichkeit (dem Paradox von Demut, Anmut wie auch Chaos des Erscheinenden) angeraten sei, an der Form des Romans festzuhalten, ob nicht ganz neue Sprachgestalten aufgerufen wären, aus dem Verborgenen herauszutreten ans Tageslicht? Andererseits gibt Kohelet zu bedenken, daß es Neues nicht gäbe unter der Sonne. Uns bleibt die Ungewißheit, der Seiltanz. Es bleibt ein Warten. Worauf, fragst Du? »Wie leer ein Wochenende ohne Ausflüge ans Meer, / Ohne Zeichen, die hinaufdeuten. Verlassnes Haus, / Ein Gebet allein darin noch wohnt, ansonsten nur ein Krug mit Essig, / Staub vielleicht auf Vogelfedern. // Tage, die wie Straßen sind, welche durch ein Viertel dämmern / Alter Industrien; Tankstellen verlassen – / Jetzt Gärten dort mit Schafställen, mit Brombeerhecken, / Bettlern und Propheten eines Buntstifts und dem Wagemut der Schrift. // Auf meine alten Bäume fiel der Schnee. / Auf meinen alten Bäumen liegt je noch ein Rockzipfel vom Kaffeehausgespräch. / Auf meinen alten Bäumen glost das Fieber nie vergangner Feldzüge und Kriege. / Über meinen alten Bäumen wachsen Schatten eines nie mehr abgewandten Monds. // Auf meine alten Bäume Unmengen von Schnee zur Unzeit fielen, / Postpakete grüner Einsamkeit. Tage, die wie Kinder ungeduldig / Um die Eiswaffel anstehn; Tage werfen einen Schlüsselbund ins Grab. / Im Waschtrog stirbt die Eintagsfliege ohne Lied und Abendland.« (Warten unter alten Bäumen) Im Alltag suchen nach dem Maß. Denken flattert in der Dämmerung umher.

Begriffe lassen denken an Reetdächer der Häuser. Der Bezug des Daches zum Haus ist eindeutig; gleichwohl verbirgt das Dach die Inhalte des Hauses. Ich spreche von einer rhetorischen Figur: der Synekdochē. Das Äußere des Begriffes bleibt (bleibt sinngemäß, wenn auch auftretend in anderer Gestalt), das Innere (Vieldeutige) wird dem ständigen Wandel unterworfen. Im Jahr 2009 erschien der Band ODESSA Transfer (herausgegeben von Katharina Raabe und Monika Sznaiderman). Die Krim war damals noch nicht besetzt von altsowjetisch-zaristischen Faschisten. Das östliche Mitteleuropa offenbarte sich, wenn düstere Ahnungen auch bereits darüber lagen, wenn Untergang und Verlust bereits sich abzeichneten hier und da, als ein Festsaal der Ideen, des Kunstschaffens, der Melancholie, der Reiselust, der Poesie. Der Name (Begriff) ›Odessa‹ hatte den Klang eines posttotalitären Liedes. Nunmehr die Melodie als zerbrochen zu gelten hat. Heute steht ›Odessa‹ (unverändert das Gewand, der Mantel, das Buchstabenäußere) für ein Weinen, ein bitteres Weinen. Aber man täusche sich nicht. Das Hoffnungsvolle liegt ebenso unter der Erde wie die Toten. Und wie die Toten wird die Hoffnung (die neue, inspirierte Kultur) auferstehen. Die Tyrannen werden nicht siegen. Ihre vermeintliche Herrschaft wird geschwind verwelken. Bald werden vormalige Anhänger an den Stalin-Gräbern bleichgesichtig frieren, an den Gräbern der falschen Vorbilder, jener Narren, die meinten, herrschen zu können. Sie werfen Bomben auf Odessa; indes Odessa zu zerstören: ein für sie Unerreichbares. Odessa, Stadt der Seele, des offenen Meeres, des Flanierens, Stadt der Cafés und Bücher. Odessa erinnert an das einsam auf den Klippen gelegene Haus. Isaak Babels Haus. Europas Heimstatt. Das antitotalitäre Lied.

In den Hafen meiner Augen segelt, heimkehrend in seinen Tag, abendlich bereits anmutendes, von müdem Gelbton durchwirktes Licht. Der Eindruck, ein Tag käme in die Welt unwirklich wie auf einer Filmleinwand Gegebenes. Ich vermisse das Unverbrauchte, das jeder Zivilisation enthobene Zitat einer mutmachenden Morgenstille, einer Morgenklarheit – und betrete gleichwohl frohgemut den Saal. In der Buchregal-Landschaft fahnde ich nach einem Essay des Hamvas Béla (dem geheimnisvollen Essay »Henoch«); ob ich an diesem Vormittag fündig werde? Immerhin stoße ich im unendlich anmutenden Buchstabenlabyrinth meiner Wohnung auf den Ausdruck der ersten Kapitel einer online erscheinenden Übersetzung ins Deutsche des Jahrhundertromans Karneval Karneval entzieht sich jeglicher  kurzfristigen Verwertungslogik. Die Erstveröffentlichung in deutscher Sprache, als „digitales Samisdat“ reflektiert nicht nur das Wesen des Romans, sondern auch den Zustand unseres Literaturbetriebs«, schreiben die Erben von Hamvas Béla). Wann endlich erscheint der Roman als Buch? Wann endlich? Ich flaniere durch die Stadt meiner Bücherregale, verirre mich im im Stadtteil Stone Town von Sansibar, verliere den Weg im Hohenlohe-Dorf Finsterlohr, im Keller eines Kopenhagener Hauses suche ich nach der Münze, die die Tür öffnet – wohin? »Das größte Wunder der Welt ist Heiterkeit. Noch größer ist nur das Wunder, daß die Heiterkeit von der Melancholie lebt. Das ist das hinreißendste Paradox des Seins.« (Béla Hamvas, Harlekin; in: Kierkegaard in Sizilien, Essays, Berlin 2006, p. 255)

» … der Pfarrer soll kein Redner sein, od. der Verkündiger des Christentums soll kein Orator sein, sondern einer, der in dem, was er verkündigt, existiert.« (Kierkegaard, Journal 1848). Im Aussprechen des Jesus-Namens webt ein Klang der Leichtigkeit; Klang, der meine Seelenschwere aufhebt, der mein Hingehn als verklärtes deutet. Ich wüßte nicht zu definieren, was ›Verklärung ‹sei; wohnt der Name, der über allen Namen ist, in meinem Mund jedoch, legt eine verklärende Partitur sich auf Dinge und Ereignisse. Todesschatten weichen, Helles mischt in bitteres Sagen sich und Meinen. Jesu Name: ein Ahorn, der überm Flußlauf meines Lebens wacht. Darf auch ich ein Ahorn sein? – »ein Fürstentum um Flüsse her, welche / gegen Abend wie Hungermonde frieren (Flüsse, / die am Morgen jedes Fließen eingebüßt). / Ahorn, dessen Schatten auf die unerkannte Krankheit fallen / einer schönen Frau. // Niemand, ach, der heute (im Angesicht / der Neujahrdunkelheiten) sterben, / die Tore einer Altstadt / schließen, den Kelch absetzen mag. // Ahorn vor den Mauern, deinen Turm / der Schönheit baue in die Ziegellandschaft / meiner Jahre; Jahre, die so klein / und sterblich, die nach Pistazienkern und Pfefferminze / manchmal schmecken möchten; die sich erträumt in Spiegeln einer menschlich kleinen / Rechenart.« (aus: Vaganten des Nordens)

Zwei unlängst vermählte Birken bekennen ihre weltabgewandte Liebe zueinander unter einer fremdfernen Mondhälfte. Altjahrabend ist im Begriff, den Schritt zu tun, der hinüberführt in ein neues Jahr. Das Leuten der Kirchenglocken, mir ein bedeutendes Zeichen in der Silversternacht, wird übertönt vom Lärm des Feuerwerks. Ich empfinde Heimweh; Heimweh nach einer Geborgenheit in kindlichem Glauben: Unberührt von allem Zerdenken, Zweifeln, von all den nachtlangen Lektüren – einfach nur den Namen aussprechen zu dürfen, der über allen Namen ist. Daß ich, in Nachbarschaft zum Birken-Ehepaar, am Straßenrand stehen und unter einem kühl wie überlegen lächelnden Mond Jesu Namen sagen dürfte. »Selig, die Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen« (Heinrich Jung-Stilling)