Sehnsucht nach Kräutertee. Ein kindliches Begehren, auf das frühmorgendlicher Regen fällt. Man könnte geneigt sein, anzunehmen, der Einzelne vergeude seine Zeit mit vergleichbar alltäglichen Dingen. Unfähig, die tragischen Substantive, (Tod und Krankheit zuerst), Inseln im Meer der Sprachlosigkeit, zu ertragen, flüchte der Mensch, so Blaise Pascal, in seine divertissements, seine Zerstreuungen. Konstantin Kavafis beharrt darauf, daß wir der Stadt, dort wir so viele Jahre lang unser Leben vergeudet, nicht entkommen könnten; wo immer wir hinreisten, wir würden »durch dieselben Straßen streifen, in denselben Vierteln alt werden.« Es gäbe »kein Schiff und keine Straße«, die aus dem kleinen Begehren, dem Vergeuden von Zeit, herausführten. Honiggesüßt der Tee; ich schaue hinaus über Mauern und Grenzen; jeder Schluck läßt mich denken an einen Baum, der nach seinem Kind ruft; an das Signal eines Güterzugs, das in der Nacht eines Waldes sich verliert; an die Blume, die jemand auf Hölderlins Grab in Tübingen legt. Am 22. Februar, vor Tagen bereits zitiert: »Ich bin die schwarze Möwe, die Erleuchtung im Trivialen sucht.« (aus Malewitsch, Wittgenstein und Ich) Keine Frage: Wir können der Trivialität nicht entfliehen. Der poetische Geist gräbt gerade in ihr nach Gott. Der Landregen winkt den Menschen zu, die nunmehr das Haus verlassen. Ach, sie gehen zur Arbeit; müde noch und melancholisch gestimmt führt ihr Weg sie zum Bahnhof etwa. Sie ziehen durch keine Leere. Überall Geheimnisse um sie her. »Wer wird den Wind liebkosen, ihn wie ein Haustier / In die Arme schließen, übermorgen? Kriege, hört man, / Große Monde, über Straßenrändern glühn.« (aus Sendbrief im Oktober)

Das Manuskript erinnert an einen unterirdischen Fluß; das fertige Buch dagegen an eine mittelalterlich ummauerte, befestigte Stadt. Manuskripten eignet ein Dunkles, ein Nicht-zu-Ende-Gesprochenes, Tastendes. Erstarrt degegen das Buch als solches; es muß geöffnet, gelesen, zerdacht werden; dann findet sich wieder der Atem, der Spaziergang am schönen Fluß entlang. Unterstreichungen, Randnotizen, das Herumkritzeln im Gedruckten (als ob man neapolitanische Balkone schüfe, dort die Wäsche trocknet im meerverliebten Wind), das Einknicken von Seitenecken – der Gedankenaustausch also, das große Gespräch mit dem Buch. Ich trage das Buch mit mir herum (in der Mantel-, der Umhängtasche); ich spüre, wie es mich begleitet, neben mir einhergeht; ich höre die Bitte des Buches, ich möge auf einer Parkbank mich niederlassen; es zur Hand nehmen, es aufschlagen, in ihm, dem treuesten Gefährten, herumwandern. Die Seiten lieben Zigarrenrauch (nicht den nervös kurzfristig inhalierten und wieder ausgestoßenen Rauch der Zigaretten; Zigarettenrauchen hat nichts Liturgisches, in ihm ist kein Umkreisen des Altars); bedruckte Seiten verzehren sich nach Tränen aus dem lesenden Auge, sie erflehen Anteilnahme, tiefe, leidenschaftliche, wie auch die nachdenkliche Weite mitteleuropäischer Wälder. Der Leser führt das Buch aus dem Hafen hinaus auf den offenen See. Dort draußen, im Offenen, gesegnet von verschneiten Alpen, heben die Toten zu sprechen an, unsere Toten, die nie weggegangen. Ich höre Auszüge aus den Essays von Montaigne; ich höre Pavese aus seinen Tagebüchern vortragen; ich höre ihn lesen Handgeschriebenes aus seinen Tagebüchern: »Du bist heute Abend wieder allein in das kleine Kino gegangen, hast im Winkel gesessen, rauchend, das Leben und das Ende des Tages schmeckend …« (Il mestiere di vivere, 22. Februar 1946). Parmenides und Hiob tauschen sich aus ––– Wir gehören unterirdischen Flüssen, Manuskripten, Büchern, in denen man liest.

Ihr blühet, wundersame Falter, am Schlaflosrand eines späten Februars. Das Frühjahr steht wie ein Postpaket, des Hinaufgetragenwerdens in Stockwerk zwei harrend, auf der untersten Stufe im Treppenhaus. Der Vogelruf und seine Kinder schmecken nach honiggesüßtem Kräutertee. »Siehe / Ich sage euch ein Geheimnis. Wir werden nicht alle entschlaffen / Wir werden aber alle verwandelt werden … Tod / wo ist deine Stachel? Helle / wo ist dein Sieg?« (1. Kor. 15, 51 & 55, Biblia Germanica 1545) Auf einen Krückstock gestützt, entfernt der müde Winter sich; und wird wohl nie mehr wiederkehren. Kommen wird an seiner statt die Taube, die schwarze Taube mit Orpheus im Schlepptau. »Gedanken, Gedanken, Gedanken, die nicht leicht und auch nicht schwer, / Gedanken, die an den Kaffeesatz erinnern mögen; / Gedanken, die zudecken das Bild, das wir uns zurechtgelegt / Von Gott – // Der war zum wasserarmen Ort geworden. // … Woran wir, über die Schattenstürze alle hinaus, glaubten / Uns klammern zu können: / An den hohen Klang der Lilie; / Verschattet die Pappelallee; darüber der Sand seit jeher schon / Gebreitet sein Gewand, jenen bitterkalten Wind, der keine Stimme hat.« (aus Anthrakiá III) Ihr wundersamen Falter! Auf dem Küchenboden verstreut die Krümel einer beiläufig dem Auge geschenkten eschatologischen Metaphysik.

Besuch einer Beerdigung. Der hochkarätig besetzte Kirchenchor sang »Der Tag beginnet zu vergehen«, eine Weise von Heinrich Albert (1604-1651). Ein zum Weinen schöner Gesang. Ich versuchte zu verstehen, was sich im Leben der Verstorbenen zugetragen. Gäbe es so etwas wie eine Biographie? Wäre es möglich, einem Faden zu folgen, der einem heraushülfe aus dem Labyrinth der Jahre, der ein Zusammenhängendes vor Augen uns stellte, welches sich rekonstruieren ließe im Sinne einer Einheit? Es lägen, nahm ich an, lediglich Splitter zerbrochener Dachziegel, zerstreut über Wüsten und Obstbaumwiesen hin, uns vor Augen. Das Unterfangen, die Ereignissplitter eines Daseins zusammenzusuchen, zu ordnen auf ein Lebensganzes hin, die Teile aufeinander abzustimmen wie die verlorengegangenen Reime eines Gedichts, erwiese sich als äußerst mühsames, letztendlich vergebliches Unterfangen. Gemeinhin glauben wir, mußte ich denken, an Namen, Karrieren, Erzählungen vom Sterben – letztlich verlieren die Splitter sich in einer Willkürlichkeit, die zu betrachten schmerzlich ist. Es gibt nur die zerbrochenen Leiber, Laternenpfähle, auf deren Spitzen Lampen vermeintlich leidenschaftlich leuchten, die tatsächlich aber nichtssagende Blinkzeichen nur senden in eine Nacht, welche (aus unserer Sicht) kein Ende finden kann. Jesus allein kann die Splitter zu einem Ganzen zusammenfügen. Jesus allein kann die Nacht des Weinens verwandeln. »Zur Ruh will ich das Haupt auch legen; es wacht um mich der Engel Schar, beschützet mich vor jeder G’fahr. So schlaf ich still in Gottes Segen. Und so ein Herz noch einsam wacht, geb ihm der Herr ein gute Nacht.« (Heinrich Albert) Auf dem Friedhof unter einer windgeschüttelten, hochgewachsenen Birke schaue ich Schönheit und erhabene Architektur des Auferstehungsgedankens; erahne ich seine Tiefe, vernehme ich den Wohlklang biblischen Denkens, biblischer Poesie; erkenne ich die Armut der Welt.

Seit langem fröne ich der Gewohnheit, die Cahiers von Simone Weil und Paul Valéry parallel zu lesen. Beide üben sich gelegentlich in mathematischer Logik (was mich gleichgültig läßt), beide sind einem Absoluten auf der Spur (wobei Frau Weil dieses im platonischen Licht des Christus sucht, Herr Valéry einer immanenten Spekulation verbunden bleibt). In beiden flackert jene Unruhe, welche Augustinus beschwört (inquietum est cor nostrum …) Beide sind, die Tyrannis des XX. Jahrhunderts vor Augen, melancholisch bzw. verzweifelt gestimmte Zeitzeugen. Was sind Lektüren? Man sucht im Unterholz nach dem verloren gegangenen Schmuckstück seiner Seele – im Wissen, daß man nichts finden wird. Und doch darf die Lektüre als eine der wenigen Möglichkeiten gelten, der Zerstreuung, die den Alltag durchherrscht, zu entrinnen. »Unsere Geschichte, unser Augenblick, unser Körper, unsere Hoffnungen, unsere Ängste, unsere Hände, unsere Gedanken – alles ist uns fremd.«(P.Valéry) »In der Kunst und der Wissenschaft ersten Ranges ist die Schöpfung Verzicht auf sich selbst.« (S.Weil) Abendlich der Maskenzug. »Der Karneval geht nie zu Ende; / unser ganzes Leben ihm gehört, / wird ihm in einem fort gehören, solange wir, / die Kinder, über unsre Erde weinen, / draußen vor dem Güterbahnhof frieren müssen. / Heute stehen wir alleine vor der Harfe. / Harfen, die ein großes Schweigen, / gehn an uns vorüber. Am Wegrand die Platanen. / Wer im Haus der Seele wohnt?« (Karneval)

» … kürzlich wurden die hinausgeschmuggelten Fragmente aus den Memoiren der Achmatova veröffentlicht, in denen sie ein offen geführtes Telephongespräch Stalins mit Pasternak beschreibt: »Wir reden die ganze Zeit nur von Mandelstam«, sagte Stalin, »aber ich will mich schon seit langem mit Ihnen unterhalten.« »Worüber?« fragte der verblüffte Dichter … »Über Leben und Tod«, antwortete Stalin und hängte ein.« (Aleksander Wat, Jenseits von Wahrheit und Lüge. Erinnerungen)

Man liest ein Leben lang; jedes Buchaufschlagen entspricht einem Anfang, als ob man immer wieder von vorne zu beginnen hätte, es keinen Erkenntniszuwachs gäbe. Als Leser sammle ich Zeichen zusammen wie Fallobst im Herbst. Alles mündet schlußendlich in einem großen Vergessen, welches vornehm grüßend dein Haus betreten wird irgendwann; besagtes Vergessen indes seit deinen ersten Atemzügen hinterm Vorhang steht und wartet, bis es vortreten darf. Dem Vergessen eignet ewige Gegenwart. Unser Leben gehört von Anfang an dem Vergessen. Was wir als Wachstum, als Entwicklung deuten ist ein Lauterwerden der Landeshauptstadt ›Vergessen ‹. Wolken des Wissens, die sich auflösen in einem Gewesensein. Vergessen – eine Maske Gottes, ein Wundersames. Wir wissen nicht, was Vergessen bedeutet. Der Hinweis im Grunde, daß wir nicht dieser Welt gehören, ein Komma sind im Brief der Schöpfung und doch Gefährten sein dürfen einer heilig göttlichen Nacht. Weine nicht …

Gäßchen, in welchen ein Pharao die Kindheit verbracht; Boulevards, darüber hinwehn leere Gesichter massenhaft. Seit jeher sind Menschen unterwegs. Waldwege, gedeutet als Adern eines kosmischen Arms. Ob auf Schiffen, in Flugzeugen, Kinderwägen – es ist ein Hingehn unermeßlich; ein Exodus seit jeher; ein Zeltaufstellen, Zeltabbrechen, Fluchtgeschehn. Herumlungern auf Bahnsteigen; das Weinen, klandestin, in Büros und in Cafés, Schweigen, die Gaben des Heiligen Abendmahls auf Wüstensand – siedend und kochend der Kreislauf noch im Schlaf. Über der Aussegnungshalle die hohe Birke winkt dem Scheidenden ihr Adieu noch zu. Ich sitze am Tisch, in Südwestdeutschland, irgendwo, in einem verträumten, belgisch anmutenden Städtchen, ich schneidere ein Abendlied. Mein Patmos überall. Ich bin die schwarze Möwe, die Erleuchtung im Trivialen sucht. Ich bin die Schauspielkunst und die Tragödie. Amen. Amen. Amen.

Überm Straßenverkehr, der wie Honigseim zäh und zuckrig, hatte ein prächtiger Morgenhimmel sich erhoben mit den Blutergüssen der Kälte. Ob ich den trockenen Schlag vernommen einer Trommel, ob ich gehört, wie der Todesengel gedankenverloren vor sich hin auf das Fell der Trommel gehämmert? »Trink aus dem Brunnen des Frosts,« hatte es, in diesen Augenblicken der Morgenkälte, gesungen. Ich erinnere die Linde, welche vor dem Fenster meines Kinderzimmers einst gestanden; diese hatte, die ehrwürdige, jahrhundertalte Linde, hin- und hergeworfen von sommerlichen Stürmen unter einem gewitterdunklen Streifen europäischen Himmels, das Haus der Kindheit , die Bewohner deselben, beschützt, hatte geschüttelt die Krone des Laubs und geschwiegen, wie Sterne schweigen und Erinnerungen an Flüsse des Nordens schweigen. Ich hatte einen Engel singen gehört: »Kaufe dein Brot, kaufe Obst. Hirse kaufe und laß dich herausführen von Jesu Engeln aus allen Abgründen. Trink aus dem Brunnen des Frosts.« Unser Gott war über die Ebenen Pommerns gegangen. Unter der Sonnenglut der Auvergne hatte er das Brot gebrochen. Unser Gott war schön gewesen, war, wie eine Glühbirne hell, die Geburtsstunde gewesen der Dichtkunst.« Warum seid ihr erloschen, ihr Stimmen alle von dazumal?

Zuweilen spaziere ich am Lager eines Obdachlosen vorüber. Er pflegt vor seinen Planen, Wäscheleinen, Kartontürmen zu sitzen unter alten Bäumen. Man sieht ihn geduldig Großbuchstaben setzen auf benutztes, schmutziges Papier. Nicht auszuschließen, daß er die Divina Commedia der Moderne niederschreibt, an einem Schelmenroman sich versucht, Verbrechen protokolliert, frei ersonnene Kochrezepte festzuhalten sich gerufen fühlt. Jedenfalls scheint er sein Haus zu bestellen, bevor er stürbe und nicht am Leben bliebe (cf. 2. Kön. 20,1). Er hat keine Stöpsel im Ohr, trägt keine Sonnenbrille, ich sehe ihn nie telephonieren. Er harrt ständig über seinen Blättern aus. Ein vergessener Montaigne des anfänglichen XXI. Jahrhunderts? Eine welke Schnittblume lediglich, ein ehemaliger Schachweltmeister, Sternekoch oder Straßenbahnschaffner? Was ist der Menschen Leben? »Literatur und Glaube verwandeln Ereignisse und Dinge. / Frostblumenzeichnungen winterlicher Fenster, / Fragmente einer anderen Dimension. / Das Vereinzelte wird Teil des Sternenhimmels. / Über die Schultern der Fabrikruine am Stadtrand, / Durch welche Füchse streichen, in welcher Insekten sterben, / Der Körper vorzeiten geleisteter Arbeit verwest, / Wird des Februars Mantel gebreitet / Aus wundersam gemustertem Tuch.« Käme jedem niedergeschriebenen Buchstaben tatsächlich Bedeutung zu? Unberührt von derlei Fragen, fährt er fort, Buchstabe an Buchstabe zu reihen. In der Tiefe des Weltenleibs ein Trommelschlag nach dem anderen. Was wären akademische Studien dagegen? Rehkitze vielleicht, die im Hintergrund in spinozistische Himmel stiegen? »O Kammer im hitzegebeugten Haus; Kammer, die ein Zugabteil, / Man muß nicht alles gesehen haben, um zu erahnen, zu verstehn. / Der Stubenhocker, der Obdachlose vor seinem Zelt, wissen, hoffe ich, viel mehr, / Als wir geneigt sind, anzunehmen.«